Interpreten
Beijing Symphony Orchestra
Tan Lihua (Leitung)
Junqiao Tang (Dizi, chinesische Bambusflöte))
Konzertprogramm
Fang Kejie
„Reba“, Sinfonische Ouvertüre
Guo Wenjing (1956*)
„Chou Kong Shan“, Konzert für Dizi und Orchester
Modest Mussorgski (1839-1881)
„Bilder einer Ausstellung“
Rezension:
Grimmiger Tiger in der Dämmerung
Nun bin ich nicht der geborene Konzertgänger, aber die Einladung zum Auftritt des Beijing Symphony Orchestra in Bern konnte ich nicht abschlagen, schon nur deswegen, weil mich chinesische Kultur immer wieder fasziniert. Offenbar geht es auch andern so, denn die UBS bezahlt die Ausstellung „Qin“ über den ersten chinesischen Kaiser und seine Tonfiguren (absolut sehenswert!), und das Migros – Kulturprozent macht das Konzert des heutigen Abends möglich.
Im wunderbaren Saal des Kulturcasinos, sozusagen nah am Himmel, die riesigen Lüster stets vor Augen, lauscht man den Klängen der Komponisten Fang Kejie und Guo Wenjing, denen es – salopp gesagt – gelingt, klassische Musik mit chinesischer Folklore zu verknüpfen. Es entsteht eine verfremdete Klangwelt, vor der offenbar einige Konzertbesucher Angst hatten, denn der Saal ist nicht voll. Die Abwesenden waren im Unrecht. Die Klangfolgen riefen Bilder hervor von plätschernden Bächlein, aber auch von Reiterhorden in der trockenen Steppe. Es waren grasige und beflügelte Töne gleichzeitig, die unter anderem den Bambusflöten von Tang Junqiao entstiegen, die als Zugabe ein Vogelduett zum besten gab. Die Musikerin hat auch zu den Melodien aus dem Film von Ang Lee „Tiger and Dragon“ ihren Part beigetragen, und es ist diese Verschmelzung von Ost und West, die diese Stücke auch für unsere Ohren zugänglich macht. Anders als die Chinaoper, die ich 1979 in Guangzhou gekauft habe, auf drei in ihren Papierhüllen zusammengenähte rote Flexidiscs gepresst. Aber diese Zeiten sind längst vorbei.
Im zweiten Teil intoniert das Orchester Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“, eine Kooperation russisch-chinesischer Freundschaft sozusagen. Es geht also sinnvoll weiter mit bildhafter Musik. Der Russe hat diesen ursprünglichen Klavierzyklus, den Maurice Ravel instrumentiert und damit berühmt gemacht hat, auf die Bilder eines Viktor Hartmann komponiert. Glücklicherweise kann man sich heute die wohl zu Recht vergessenen Aquarelle im Internet ansehen. Im Kopf entstehen während der Aufführung jedoch völlig andere Gemälde von russischer Urgewalt und endlosen Landschaften. Während die Wahrnehmung des „Gnoms“ am Anfang noch etwas schwammig wirkt, erhebt sich das Orchester plötzlich zu einer messerscharfen Präzision, die einen atemlos zurücklässt, wenn man durch „das große Tor von Kiew“ den Konzertsaal verlässt.
Ein Gedicht von Li Bai soll den Komponisten Guo Wenjing beeinflusst haben: „Nimm dich vor dem grimmigen Tiger in der Dämmerung in Acht, fliehe die Schlangen am frühen Abend! Zähneknirschende, blutsaugende Mörder! Zahllos sinken die Menschen dahin …“ So schlimm kam es dann doch nicht.
Rezension: Paul Ott