Besetzung und Programm:
Teodor Currentzis Leitung
musicAeterna Orchester
Alexey Retinsky: «Anapher» für symphonisches Orchester (Uraufführung)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5
Ein illustres, teils gar prominentes Publikum strömte erwartungsfreudig in den Konzertsaal, darunter u.a. Samih Sawiris, der ägyptische Grossinvestor u.a. des Andermatt Swiss Alps Projektes.
Uraufführung von Alexey Retinskys neuem Werk Anapher für symphonisches Orchester
Immer schwer, Uraufführungen zu rezensieren, da man keinerlei Bezugspunkte, weder literarische, noch akustische in Form eines Tonträgers, hat. Deshalb kam mir sehr gelegen als meine Begleiterin am Ende des Werks bemerkte: Das hat getönt wie in der Taiga. Also, das Pferd von hinten aufzäumen und fragen
Wie tönt ein Tag in der Taiga?
In den Wäldern der Taiga leben Elche und Braun- und Schwarzbären, aber auch Eichhörnchen, Füchse, Dachse, Hasen, Zobel und der Vielfraß. Marder. Wildschweine, Luchse, Nerze und Hirsche kommen ebenfalls vor. Es wachsen Nadelbäume wie Kiefern, Fichten, Tannen und Lärchen. All deren diverse Geräusche zu orchestrieren, damit sie von einem Klangkörper interpretiert werden können erscheint uns als ein Ding der Unmöglichkeit. Doch genau dies macht der gebürtige Krim Ukrainer Retinsky und bedient sich dafür auch sehr ungewöhnlicher Instrumente, von welchen de E Gitarre noch das gebräuchlichste ist. Wo aber findet man sonst eine Partitur, die auch Noten für Semantron und hundert Wasserpfeifen.enthält?
Komposition für Wasserpfeifen?
Genau diese Wasserpfeifen sind es denn auch, die ungefähr in der Mitte des Werkes ein grossartiges Vogelgezwitscher erzeugen, das Currentzis genüsslich auskostend in die Länge zieht, bevor sich die Töne wie ein Vogelschwarm wieder voneinander trennen und in der Taiga verstummen. Kündigt das kurz dröhnende Brummen der Bässe das Erscheinen eines Braunbären an, sequenziert die trillernde Querflöte das Herumhuschen eines flinken Eichhörnchens, symbolisieren die sanften Harfenklänge das rieseln den Nadeln, die von den Fichten und Tannen zu Boden schweben?
Klangwelten einer uns unbekannten Fauna und Flora
Das aufgeregte Trällern des Piccolos versinnbildlicht die Angstschreie einer von einem Fuchs im Gras aufgescheuchten Schnepfe. Symbolisiert das Schlagwerk nicht Storchengeklapper? Alexei Retinski,Teodor Currentzis – musicAeterna eröffnen uns hier völlig neue Klangwelten, lassen uns akustisch eintauchen in eine uns unbekannte Fauna und Flora. Diese Klangwelten überzeugten auch das Publikum im vollbesetzten Konzertsaal, welches dann auch nicht mit stürmischem Applaus geizte, bevor man sich in die Wandelhallen des KKL in die Pause begab.
Näheres zum Komponisten
Alexei Retinski, der erste Resident der musicAeterna Komponisten-Werkstatt in Sankt Petersburg ist ein Absolvent der Zürcher Hochschule der Künste und der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz bei Professor Beat Furrer. Seine Werke werden häufig in russischen und europäischen Konzertsälen aufgeführt. „Anapher“ wurde für ein grosses Sinfonieorchester, eine E-Gitarre, drei Semantrons und hundert Wasserpfeifen komponiert.
Das Nebeneinander von klassischer Besetzung und atypischen Instrumenten beruht auf dem dramaturgischen Konzept eines qualitativen Übergangs in einen neuen Zustand. Dieser Übergang wird durch eine quantitative Anhäufung von Instrumenten erzielt, die die traditionelle orchestrale Textur scheinbar durchbricht.
Dabei verlässt die Textur das konventionelle Achsensystem und überschreitet die Grenzen der legitimen Temperamente und klanglichen Hierarchien – und wie sich am Ende herausstellt, ist der scheinbar „entgleiste Zug“ mit Flügeln ausgestattet.
2. Konzertteil Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5
Jede Note ist von der vollsten Lebendigkeit und alles dreht sich im Wirbeltanz. Es bedarf nicht des Wortes, alles ist rein musikalisch gesagt.«
Gustav Mahler gegenüber Natalie Bauer-Lechner über seine Fünfte Sinfonie
Mahlers Philosophie in Musik verpackt
Mahler waren Sinfonien stets ein Mittel zur Interpretation komplexer philosophischer Probleme, die verbal nicht gelöst werden konnten. Die anspruchsvolle Struktur der fünfteiligen Sinfonie reicht vom Trauermarsch bis hin zum fulminanten Finale – ein unerschrockener Versuch, den tragischen Konflikt mit der ihn umgebenden Welt zu lösen.
Der geniale vierte Satz der Sinfonie, das Adagietto, gleicht einer wunderschönen geheimnisvollen Blume, die jeder Dirigent in seinem eigenen Stil neu interpretiert. Mahler hat als einer der einflussreichsten Maestros des zwanzigsten Jahrhunderts die Rolle des Dirigenten neu definiert. Für Mahler ist der Dirigent ein ebenso wesentlicher Bestandteil seiner musikalischen Werke wie der Komponist.
Wenn ein Dirigent das Pult betritt und die Partitur aufschlägt, erschafft er musikalische Universen von Grund auf neu. Seit vielen Jahren führen Teodor Currentzis und das musicAeterna Orchester Mahlers Sinfonien in vielen Ländern der Welt auf. Die Fünfte Sinfonie hat dabei ihren Platz als einer der Höhepunkte des Zyklus erobert.
Mahler neu gedacht von Teodor Currentzis – musicAeterna
Ein ausführlicher Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt in cis-Moll ist dem eigentlichen Hauptsatz vorangestellt. Er beginnt mit einer verhaltenen Trompetenfanfare, welche zum maßgeblichen Motiv des Marsches wird. Das Motiv erinnert an den Beginn des Generalmarsches der österreichisch-ungarischen Armee. Die Fanfare wird im Orchestertutti abgeschlossen und anschließend resignierend in die Tiefe geführt.
Es schließt sich ein klagendes, gesangliches Thema der Streicher an und sorgt im Folgenden für eine dunkle und bedrohliche Stimmung. Das Fanfarenmotiv kehrt nun im Orchester wieder und sorgt für eine musikalische Verdichtung. Der gemessen schreitende Zug wird durch ein erstes Trio unterbrochen. Ein plötzlich hervorbrechender Ausbruch in b-Moll, der sich zum Tutti steigert und die Grenzen des tonalen Raumes antastet, leitet es ein. Eine sprunghaft aufsteigende Melodie wird von synkopierenden Gegenrhythmen kontrastiert.
Dritter Satz
Eine Walzermelodie bestimmt das erste Trio und lässt das Bild einer traumhaft-heilen Welt entstehen. Die inhaltliche Wiederholung des Scherzos führt zu einem Tuttihöhepunkt, welcher das zweite Trio einleitet. Im Gegensatz zum ersten handelt es sich um einen langen und thematisch schwergewichtigen Einschub. Eine durchgehende Bewegung fehlt hier, zahlreiche Haltepunkte führen maßgeblich zur großen Ausdehnung des Satzes. Eine wehmütige Melodie entfaltet sich in den Holzbläsern und Streichern zu minimalistischer Pizzicato Begleitung der Streicher. Ein elegischer Horn Ruf wirkt wie ein entrückendes Element und verleiht dem musikalischen Geschehen einen mystischen und tiefgehenden Klang, welcher einen böhmischen Klagegesang aufgreift[3]. Nach einiger Zeit verdichtet sich das Geschehen und steigert sich zu furiosen Läufen und einem großen Fortissimo am Rande der Tonalität.
Langsam entwickelt sich im Anschluss eine dynamische Steigerung. Dieser dramatische Höhepunkt ist in höchst freier Chromatik gestaltet und geht, wie es für Mahler typisch ist, in mehreren Wellen vor sich. Er beruhigt sich durch die Wiederkehr des Hauptthemas. Der Mittelteil des dreiteiligen Satzes bringt einen neuen Gedanken, ohne jedoch eine Stimmungsänderung zu bewirken. Der Satz verklingt nach der Rückkehr des Hauptthemas friedlich und nahezu entrückt in pianissimo
Die Sinfonie endet mit einem sich langsam steigernden Rondo-Finale. Allegro – Allegro giocoso
Die übersteigerte Apotheose ergeht sich in nahezu lärmender Polyphonie und grenzenlosem Jubel und wird durch die Wiederkehr des Chorals aus dem zweiten Satz eingeleitet. Mahlers letzte Tempoangabe gibt vor: „Allegro molto und bis zum Schluss beschleunigend“. Der alles mit sich reißende Taumel beendet die Sinfonie mit einem mächtigen Tuttiakkord.
Currentis Interpretation der fünften Sinfonie Mahlers berührt und fesselt zugleich. Von der berühmten Trompetenfanfare über den dramatischen Ausdruck des zweiten Satzes und dem träumerisch-anmutenden Adagietto bis hin zur musikalischen Hin-und-her-Gerissenheit des Rondo-Finales, lotet er jede dynamische Nuance der Partitur aus. Gleichzeitig brilliert die Interpretation in Sachen Präzision und lebendigem Orchesterklang.
Currentzis nimmt das Schlagwerk und die Bläser ebenso energisch in die Pflicht, wie er die Streicher uns sanft zärtlich umschmeicheln lässt, besonders ausgeprägt beim tänzelnden Walzer im dritten Satz. Dabei bewegt sich der charismatische Dirigent elegant geschmeidig gibt seine Anweisungen mittels kleinen Gesten, auf- und anfordernder Blicken und motivierenden Körperbewegungen
Tiefgründig und messerscharf
Mit unverstelltem, tiefenscharfem Blick erschließen Teodor Currentzis und seine Mitmusiker die klanglichen Schönheiten ebenso wie die schroffen Abgründe der monumentalen Partitur, um deren finale Gestalt der Komponist gerungen hat wie bei kaum einer anderen seiner Sinfonien.
Das Auditorium war hingerissen, aber auch tief beeindruckt von dieser Demonstration und feierte die Protagonisten mit einer langen, nicht enden wollenden stehenden Ovation.
Nachtrag
Ausser den Cellisten absolvierten alle Musiker*innen das Konzert stehend, auch eine Aussergewöhnlichkeit, schon fast ein Markenzeichen dieses Orchesters, Teil seiner intensiven Aura.
Luzern gehört laut Pressetext zu den «wichtigsten Musikmetropolen mit hoher kreativer Energie». Einen Grund dafür hatte Currentzis selbst nach einem Konzert am Lucerne Festival genannt. Bei einem Auftritt vor Publikum im Panoramafoyer des KKL sagte er: Das ist der beste, wirklich der beste moderne Konzertsaal der Welt.»
Teodor Currentzis weiter:
Die musicAeterna Kreativresidenzen verwirklichen unsere Vision von der Zukunft der Kunst. Es ist ein Weg, die Künste zu erneuern, indem die Grenzen zwischen ihnen verwischt werden. In unseren Residenzen tauschen Künstler, die in unterschiedlichen Bereichen arbeiten, aber ähnliche Visionen von Schönheit und der Zukunft der Kunst haben, Inspiration und Ideen aus. Dies ermöglicht es uns, uns selbst, die Welt und die Kunst aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, erweitert unseren Horizont und führt zu einem völlig neuen Ergebnis. Sie verändert uns unweigerlich. Und wir möchten, dass auch das Publikum diese Freiheit spürt und diesen Schwung bekommt. Die Residenz ist eine Möglichkeit, in einen Raum der Erkundung und Kommunikation einzutreten. Dies ist das Wesen und der Geist unseres Projekts.
Mein Fazit: Wer dieses Orchester mit seinem Dirigenten nie live erlebt hat, wird nie verstehen, was Musik wirklich ist!
Kleine Fotosiashow zum Bericht:
fotodiashows.wordpress.com/2021/10/08/currentzis/
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: https://musicaeterna.org/
Homepages der andern Kolumnisten: www.noemiefelber.ch
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Max Thürig www.maxthuerig.ch