Besetzung und Programm:
LUDWIG VAN BEETHOVEN Sinfonie Nr. 6, op. 68 »Pastorale«
LUDWIG VAN BEETHOVEN »Marcia Funebre« aus Sinfonie Nr. 3, op. 55 »Eroica«
ROBERT SCHUMANN »Thema« aus Ghost Variations, WoO 24
ROBERT SCHUMANN »Langsam« aus Violinkonzert in d-Moll, WoO 23
DMITRI SCHOSTAKOWITSCH »Passacaglia« aus Violinkonzert Nr. 1 a-Moll, op. 77
Patricia Kopatchinskaja Violine, Konzept, Leitung
Lani Tran-Duc Visuelle Gestaltung
Tabea Rothfuchs, Ruth Stofer Video
Markus Güdel Lichtdesign, technische Leitung
Katharina Pelosi Sounddesign
Abraham Cupeiro Karnyx
Diesmal führte unser Weg nicht zur Elbphilharmonie, sondern, mit dem Linienbus quer durch die Reeperbahn zum Johannes-Brahms-Platz, dem Standort der altehrwürdigen Laeiszhalle, dem Hamburger Konzerthaus, bevor die «Elphi» den Betrieb aufnahm.
Andere geben ein Wohltätigkeitskonzert und spenden die Einnahmen an z.B. «Fridays for future», Patricia Kopatchinskaja macht es sich nicht ganz so einfach und geht weit aufwändigere, sehr persönliche, engagiertere Wege für ihr Engagement zum Stopp des Klimawandels.
Das Projekt: Sie fragt sich und uns: Wieviel Zeit bleibt uns noch?
Wie viel Zeit haben wir noch auf der Erde? Wann werden die natürlichen Ressourcen verbraucht sein, wann zwingen uns Naturkatastrophen, steigende Meeresspiegel und neuartige Krankheiten in die Knie? Solche Fragen beschäftigen auch Patricia Kopatchinskaja, bekannt als feuerköpfige Geigerin, die weder vor Traditionen Angst hat noch vor ihrer herzhaften Erneuerung. Mit ihrem neuen Projekt »Les Adieux« setzt sie ein Statement zu Klimawandel und Naturschutz, passend zum aktuellen Hamburger Musikfest-Motto »Natur« (und zu ihrer eigenen Entscheidung, zu Konzerten nur noch per Bahn anzureisen, statt den Flieger zu nehmen).
Dazu versammelt sie gleich mehrere Werke, die sie zu einem szenischen Konzert fügt. Beethovens »Pastorale« bildet mit ihren Vogelstimmen den Ausgangspunkt einer ursprünglich belassenen Natur. Abschied von dieser heilen Welt nimmt Patricia Kopatchinskaja in langsamen, nachdenklichen Sätzen aus Violinkonzerten von Robert Schumann und Dmitri Schostakowitsch. Begleitet wird sie vom Mahler Chamber Orchestra, einem nicht minder flexiblen und zukunftsgewandtem Sparringspartner, mit dem sie eine lange Zusammenarbeit verbindet.
Mit ihrem Projekt „Les Adieux“ setzt Patricia Kopatchinskaja ein Statement zu Klimawandel und Naturschutz. „Mein Ziel ist es, zum eigentlichen Kern eines Stückes vorzustoßen – zu seiner Bedeutung im Hier und Jetzt, für uns“ – so lautet das Motto der Ausnahmekünstlerin, die bekannt ist für ihre unkonventionellen Interpretationen. Sie stellt Stücke in neue Kontexte und kombiniert Musik mit audiovisuellen Performances. So auch in ihrem neuen Projekt „Les Adieux“ mit dem Mahler Chamber Orchestra: Gemeinsam mit dem experimentierfreudigen Ensemble und der Ausstatterin Lani Tran Duc hat sie ein szenisches Konzert entworfen – mit einem ganz besonderen Bühnenbild und aufwändigen Videoprojektionen.
In »Les Adieux« stimmt Patricia Kopatchinskaja eine szenisch-musikalische Wehklage an, in der um unseren untergehenden Planeten getrauert wird. Von der prächtigen und klangreichen Flora und Fauna, die der Geigerin die ersten musikalischen Lehrerinnen waren, heißt es, Abschied zu nehmen, wenn die Menschen weitermachen wie bisher; nicht ohne die Hoffnung, dass das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 ernst genommen werden. Kopatchinskaja verwebt Beethovens naturverbundene »Pastorale« mit Sätzen aus Schostakowitschs zweitem Violinkonzert, Robert Schumanns Violinkonzert sowie seinen »Geistervariationen«. Im feinsinnigen Zusammenspiel mit Bühnenbild und Videoprojektionen schwebt über der verzweifelten (An-)Klage ein Damoklesschwert kommender Adieux, Farewells und Abschiede.
Am Vorabend diskutierte sie im Rahmen eines Gesprächskonzerts mit dem Nachhaltigkeitsforscher Dr. Manuel Rivera über die Themen Kunst und Klimawandel. Der Abend dient auch, aber längst nicht nur als Vorbereitung auf das Konzertprojekt »Les Adieux« am Folgetag. Ausgehend von Ludwig van Beethovens »Pastorale« verabschieden sich Patricia Kopatchinskaja und das Mahler Chamber Orchestra darin vom heilen Bild einer unberührten Natur
Zum Orchester
Das Mahler Chamber Orchestra (MCO) wurde 1997 von Claudio Abbado und früheren Mitgliedern des Gustav Mahler Jugendorchesters gegründet. Das Orchester hat 45 Mitglieder aus 20 Ländern und gibt etwa 60–70 Konzerte im Jahr. Das Mahler Chamber Orchestra ist als eingetragener Verein in Berlin registriert.
Visuelle Inszenierungen haben durchaus Tradition
Visuelle Gestaltung gab es schon immer. Die »Sieben letzten Worte« von Haydn beispielsweise wurden in einer schwarz verhängten Kapelle uraufgeführt. Wichtig ist, dass die Inszenierung nicht zum Selbstzweck oder Regietheater wird, sondern aus der Musik herauskommt und diese unterstützt. Kopatschinskaja hat nie mit einem Regisseur gearbeitet, sondern alles selbst mit den Musikern ausprobiert. Wenn es stimmig ist, dann wird es nicht als inszeniert empfunden, sondern die Grenzen zwischen dem Visuellen und der Musik verschmelzen zu einer einzigen vielschichtigen Geschichte.
Es war schon klar, dass uns kein «normales» Konzert erwartete.
Beethovens «Pastorale» ertönte als Einstieg in dieses aussergewöhnliche Konzert. Alle aufgeführten Werke natürlich in höchster Qualität, vollstem Engagement und beeindruckender Emotionalität. Es ist also durchaus machbar, Weltklassemusizieren mit soziokulturellem Engagement in Einklang zu bringen. Besonders erwähnenswert die perfekte Harmonie des sehr jungen Konzertmeisters mit der «Meisterin».
Beeindruckende Installationen
Die Installationen die sich teilweise in, über oder unter dem, über der Bühne hängenden Stoffbaldachin abspielten, führten uns in beängstigend eindrücklichen Motiven vor Augen, das mal langsame, mal schnellere Verschwinden von Fauna und Flora, das dahinsiechen von Vegetation und Lebewesen auf unseren Planeten, die fahrlässige, mutwillige, gar manchmal, aus kommerziellen Gründe vorsätzliche Zerstörung unserer einmaligen Umwelt.ein chronologischer Zeitraffer von der Schöpfung bis zum, wenn wir nicht sofort handeln, unausweichlichen, bitteren Ende unserer Zivilisation.
Als am Schluss noch Abraham Cupeiro mit seinem Karnyx dazu kam tönte es schön als stünde der Weltuntergang kurz bevor. So in etwa mussten sich die Römer gefühlt haben, als Rom durch die Vandalen belagert wurde, die mit ihren hunderten von Karnyx ausserhalb der Stadtmauern Tag und Nacht ein unheimliches, ohrenbetäubendes Getröte anstimmten.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und belohnte die Protagonist*innen mit einem langanhaltenden Applaus, der in eine «Standing Ovation» mündete.
Für einmal verliess man einen Konzertsaal in sehr nachdenklicher und nicht so aufgeräumter Stimmung wie üblich, wahrscheinlich genau das, was sich die Künstlerin mit dieser Inszenierung gewünscht hat.
Trailer »Les Adieux« | Patricia Kopatchinskaja | Mahler Chamber Orchestra
www.elbphilharmonie.de/de/mediathek/patricia-kopatchinskaja-mahler-chamber-orchestra/730
Text: www.leonardwuest.ch Fotos: Angela Henzi und https://www.elbphilharmonie.de/de/festivals/internationales-musikfest-hamburg/697
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