Besetzung und Programm:
Solist*innen des Lucerne Festival Orchestra Kit Armstrong Piano
George Gershwin (1898–1937)
Klavierquintett A-Dur op. 81
Transzendentale Etüde Nr. 36 (für die linke Hand)
A Bird came down the walk für Viola und Klavier
Klavierquintett a-Moll
Allgemeines zum, von Dr. Dolf und Maria Stockhausen gesponserten Konzert
2009 machten Bauarbeiter auf dem Dachboden eines verfallenen Hauses in St. Anne, Illinois, eine erstaunliche Entdeckung: Sie förderten dort ganze Stapel mit handgeschriebenen Noten aus der Feder von Florence Price zutage, die in dem Anwesen einst ihre Sommerresidenz unterhielt. Der sensationelle Fund führte zur Renaissance dieser grossartigen afroamerikanischen Komponistin, die nach ihrem Tod im Jahr 1953 fast völlig in Vergessenheit geraten war. Kit Armstrong stellt mit Solist*innen des Lucerne Festival Orchestra das Klavierquintett in a-Moll vor, das spätromantisches Melos mit Anklängen an Kirchenlieder und einem Juba-Tanz verbindet. Multikulturell geht es ohnehin zu an diesem Abend. Blues Reminiszenzen enthält der langsame Satz aus George Gershwins Klavierkonzert, tschechische Ohrwürmer erwarten uns bei Antonín Dvořáks Klavierquintett mit seiner hinreissenden Dumka. Parsischer Herkunft ist der 1988 verstorbene Kaikhosru Shapurji Sorabji, der eine musikalische Brücke von Ost nach West schlägt und etliche Klavierwerke vorlegte, die lange als «unspielbar» galten. Fernöstliche Impulse steuert schliesslich der Japaner Tōru Takemitsu bei.
George Gershwin 2. Satz aus dem Concerto in F, arrangiert für Trompete, Klavier und Streichquintett
Vorgeschichte zur Komposition:
„New York Symphony“ – so sollte das Concerto in F ursprünglich heißen. Es entstand 1925 als Auftragskomposition für Walter Damrosch, den Chefdirigenten der New York Symphony Society. Vermutlich entschied sich Gershwin für den ‚klassischen‘ Titel, um zu vermeiden, dass man sein Stück ’nur‘ als klingendes Großstadt-Gemälde wahrnahm. Denn mit dem Concerto wollte er sich einreihen in eine große, jahrhundertealte Musiktradition.
Die „Rhapsody in Blue“ hatte Gershwin als Komponisten über Nacht berühmt gemacht. An diesen Erfolg wollte er ein Jahr später mit dem Concerto anknüpfen. „Viele Leute glaubten, die Rhapsody sei nur ein glücklicher Zufall gewesen“, erinnert sich Gershwin. „Also machte ich mich daran, ihnen zu zeigen, dass ich noch eine Menge mehr drauf habe als das. Ich entschloss mich, ein Werk der absoluten Musik zu schreiben. Die Rhapsody war, wie aus dem Titel zu schließen, eine Impression über den Blues. Das Concerto sollte aber unabhängig sein von einem Programm.“ Gershwin hat’s klar erkannt: wer es in Amerika zu etwas bringen will, muss zeigen, was er kann! Und auch mal laut mit dem Handwerk klappern.
Zur Interpretation durch die Musiker*innen
Selbst wenn sich Gershwins Konzert an klassischen Vorbildern orientiert, er orchestrierte es sogar selbst, – mit dem jazzinspirierten Tonfall dieser Musik schimmert halt schon immer sein Grosserfolg, die «Rhapsody in Blue» durch. Die sieben Musiker*innen intonierten mit einer Mischung aus fast schon bluesiger Leichtigkeit und Entspanntheit, eine wunderbare Symbiose von Jazz und klassischen Elementen, vorgetragen mit sichtlichem Vergnügen, nicht immer nur «todernste» Klassik zu spielen, gewürdigt vom Publikum mit langanhaltendem Applaus.
Antonín Dvořák Klavierquintett A-Dur op. 81
Gleich der Beginn des 1. Satzes – einer der eindrucksvollsten Einstiege der gesamten Kammermusik – stellt ein Schubertisches Cellothema einem symphonischen Tutti nach dem Vorbild von Brahms gegenüber. Ihm folgen: ein leggiero-Thema in a-Moll, ein der Bratsche zugewiesenes, wehmütiges Seitenthema in cis-Moll und eine aus diesem abgeleitete Schlussgruppe. Die Themen werden in einer Sonatenform von monumentalen Ausmaßen verarbeitet, wobei ein Zitat aus dem A-Dur-Klavierquartett von Brahms auf das Vorbild dieses Satzes verweist. Besonders hervorzuheben sind die harmonischen Ausweichungen in der Durchführung, die bis nach Es-Moll und Ces-Dur führen, und die großartig gesteigerte Reprise des Hauptthemas.
Mit dem traurig ins Bodenlose abfallenden zweiten Thema im Kopfsatz, ist Dvorák in einer Klangwelt angelangt, in der sich die Slawen besser zurechtfinden.
Dvořáks besondere Affinität zur ukrainischen «Dumka»
In den Mittelsätzen knüpfte Dvorak an sein neun Jahre früher komponiertes Streichsextett in A und an das Quartett Opus 51 an. Wie dort, so ist auch hier das Adagio eine Dumka, wie im Sextett das Scherzo ein Furlant. Die Dumka , ein sehr melancholischer ukrainischer Volkstanz, für den der Wechsel zwischen Langsamen, melancholischen Teilen und schnellen Tanzabschnitten typisch ist. In der Dumka des Klavierquintetts hat Dvorak außerdem einen halbschnellen Zwischenteil eingefügt, der durch seine eigenartigen Klangmischungen zwischen Klavier und Streichern fasziniert. Das Thema der langsamen Teile ist von unwiderstehlicher Schönheit, die freilich einiges der berühmten Marcia funebre aus Schumanns Klavierquintett verdankt.
Der Furiant des dritten Satzes ist ein tschechischer Volkstanz im schnellen Dreiertakt, der im Trio auf wundersame Weise in ein Lyrisches Stück im Stile Griegs verwandelt wird. Das Finale konkurriert nicht mit dem Kopfsatz, sondern gibt sich als schwungvolle Polka mit kunstvoller Fugato-Durchführung.
Es ist nicht möglich, einen Satz dem anderen vorzuziehen, denn das feurige Allegro und die poetische Dumka treiben ebenso voran wie der ungestüme Furiant und das fröhliche Finale. Dass Dvoáks Stück einen wunderschönen klanglichen Eindruck macht und interessante und originelle instrumentale Effekte großer Zahl enthält, ist ebenso unzweifelhaft wie die Feststellung, dass die fünf Protagonisten auf der Bühne, die Intentionen des Komponisten schlicht grossartig umgesetzt haben. Der absolute Höhepunkt dieses Konzertabends. Das Auditorium belohnte die Protagonisten mit stürmischem Applaus und einigen Bravorufen und begab sich dann in die Foyers des KKL in die Pause.
Kaikhosru Shapurji Sorabji Transzendentale Etüde Nr. 36 (für die linke Hand)
Kaikhosru Shapurji Sorabji starb vor 34 Jahren, 1988, im biblischen Alter von 96 Jahren, und damals war er einer der unbekanntesten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Der aus einer Parsi-Familie stammende, aber Zeit seines Lebens in England ansässige Tonsetzer, der alle Spekulationen über seine ethnische Herkunft brüsk zurückwies, hatte sich um die Verbreitung seines umfangreichen, hauptsächlich aus Klaviermusik bestehenden Oeuvres wenig gekümmert; die teilweise haarsträubenden Schwierigkeiten seiner Werke taten ein Übriges.
Auch für dieses Werk braucht es einen ganzen Konzertflügel
Obwohl dieses Oeuvre nur mit der linken Hand gespielt wird, bracht es natürlich auch den ganzen Konzertflügel und nicht nur einen halben, denn der Komponist «nötigt» die Interpreten, mit der linken Hand ab und zu auch die obersten Tasten auf der rechten Flügelseite zu betätigen, dort gar Läufe, Tremoli, Tonkaskaden einzustreuen.
Auch hier lernt man „Etüden“ in einem weiten Spektrum zwischen spezifischen technischen Aufgaben und charakteristischen Stimmungs- und Klangwerten kennen, eine teils hyperspätromantische, teils atonale Welt voll unerschöpflicher Fantasie, geistreich, blitzend in den schillernden Kaskaden, aber auch lyrisch versunken. Der oft wegen seiner Überlängen gefürchtete Sorabji zeigt sich hier auch als formbewußter Aphoristiker. Auf dieser hochinteressanten Entdeckungsreise präsentiert sich der amerikanische Tastenakrobat Kit Armstrong einmal mehr in bestechender Form, selbst da, wo er eine ultimative Grenze des überhaupt Spielbaren einräumt.
Tōru Takemitsu A Bird came down the walk für Viola und Klavier
Die Eröffnungsmelodie in der Bratsche konzentriert sich auf einem wiederholten g‘, das zunächst normal gespielt wurde und dann wieder als wechselnde Obertöne auf den tieferen Saiten erklang. Der fortgeschrittene Bratschist, wie dies Wolfram Christ ist, wird Takemitsus Verwendung von Doppel-, Dreifach- und Vierfachgriffen für das Instrument gut geeignet finden. Neben den üblichen Sul-Ponticello- und Sul-Tasto-Effekten fordert Takemitsu häufig Harmonien kombiniert mit Glissandi – ein üblicher Effekt in Takemitsus Streichern, der möglicherweise von Messiaen herrührt.
Ein bemerkenswertes melodisches Merkmal ist die Verwendung von Tremolo, um Vogelgesang vorzuschlagen; An einer Stelle verwendet Takemitsu im Klavierpart die beschreibende Kennzeichnung „als Ruf eines Vogels“. Während die Beschwörung des Vogelgesangs den Titel des Stücks konnotiert, spiegelt er auch einen anderen Einfluss von Messiaen wider, dem berühmtesten Komponisten des Vogelgesangs. Die Darstellungen des Vogelgesangs sind am deutlichsten im Klavier, oft umreißen Dreiklänge auf F und Cis mit wiederkehrenden Tremolo-Figuren von 32-Noten-Figuren, die normalerweise in Tonhöhe und Register festgelegt sind, gegenüber eckigen dissonanten Melodien und dichten Harmonien in einer Schichtung Textur.
Fünftönige pentatonische Akkorde mit Dur-Beugung sind ein wiederkehrendes Merkmal des Klavierparts. Takemitsu verwendet dichte, vorwiegend tertianische Akkorde und Arpeggio Figuren, wobei sich einige Akkorde in paralleler Bewegung verschieben. Kit Armstrong präsentiert sich hier als äußerst anpassungsfähig und als kongenialer Duopartner für den Könner Christ mit der Viola. Ausgehaltene Töne, die Tritonus umreißen, verleihen dem Stück ein Element struktureller Kontinuität. Der Eröffnungsabschnitt des Stücks kontrastiert das ausgehaltene g‘ der Bratsche mit den langen Basstönen des Planos auf cis/des[b]. Nach mehreren Phrasen verschiebt sich das Verhältnis um einen Schritt, wobei ein a in der Bratsche gegen E[[flat].sub.1] im Klavier zu hören ist. Spuren dieser weiträumigen linearen Verbindungen ziehen sich durch das ganze Stück, bis sich der Bass am Ende wieder auf Des niederlässt.
Die beiden Akteure durften für ihre Darbietung den verdienten, langanhaltenden Applaus des Auditoriums ernten und wurde etliche male auf die Bühne «zurückgeklatscht». A Bird Came Down the Walk ist ein wichtiger Beitrag zum fortgeschrittenen Viola-Repertoire und absolut spielwürdig.
Florence Price (1887–1953) Klavierquintett a-Moll
Price war die erste Afroamerikanerin, deren Orchesterwerk von einem großen US-Orchester gespielt wurde. Sie behauptete bekanntlich, dass sie mit „zwei Handicaps zu kämpfen hatte – dem ihres Geschlechts und ihrer Rasse“, und ein Großteil ihrer Musik blieb bis zu ihrem Tod unveröffentlicht
Der Musikstil der Afro Amerikanerin
Obwohl ihre Ausbildung von europäischer Tradition geprägt war, besteht Price’s Musik hauptsächlich aus dem amerikanischen Idiom und offenbart ihre südlichen Wurzeln. Sie schrieb mit einem volkstümlichen Stil und verwendete Klänge und Ideen, die der Realität der städtischen Gesellschaft entsprechen. Als engagierte Christin verwendete sie häufig die Musik der afroamerikanischen Kirche als Material für ihre Arrangements. Auf Drängen ihres Mentors George Whitefield Chadwick begann Price, Elemente afroamerikanischer Spirituals zu integrieren und den Rhythmus und die Synkope der Spirituals zu betonen, anstatt nur den Text zu verwenden. Ihre Melodien waren vom Blues inspiriert und mit traditionelleren, europäischen romantischen Techniken vermischt . Die Verflechtung von Tradition und Moderne spiegelte das Leben der Afroamerikaner in den Großstädten zu dieser Zeit wider.
Symbiose von Musikstilen der alten und der neuen Welt
Obwohl das a-Moll Klavierquintett in seinem spätromantischen Idiom charakteristisch konservativ ist, feiert es Price‘ afroamerikanisches Erbe mit Anklängen an Spirituals und Hymnen und den beliebten Juba-Stomping-Tanz, der seine Wurzeln in den Sklavenplantagen des tiefen Südens hat. Ebenso hat sie sich offenbar aber auch an Kompositionen von Antonín Dvořák orientiert. Anyway, dem Publikum gefiel die akustische Symbiose von alter und neuer Welt und es belohnte die Ausführenden dementsprechend mit stürmischem Schlussapplaus, der auch die Künstlerinnen mit einschloss, die sich bei Darbietung dieses Werkes nicht mehr auf der Bühne befanden.
Text: leonardwuest.ch
Fotos: Léonard Wüst und Priska Ketterer https://www.lucernefestival.ch/de
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