Besetzung und Programm:
Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO)
Thomas Adès Dirigent
Anne-Sophie Mutter Violine
>Per Nørgård (*1932)
Drømmespil (Traumspiel) für Kammerorchester
Witold Lutosławski (1913–1994)
Sinfonie Nr. 3
Igor Strawinsky (1882–1971)
Agon. Ballett für zwölf Tänzer
Thomas Adès (*1971)
Air für Violine und Orchester (Uraufführung) Auftragswerk «Roche Commissions» für Lucerne Festival
Ko-Auftraggeber: Anne-Sophie Mutter, Carnegie Hall und Boston Symphony Orchestra
Grundsätzliches zum Konzert ab Homepage des Lucerne Festivals
Berührungsängste mit der Tradition kennt er nicht: Composer-in-residence Thomas Adès, der sein neues Werk für Stargeigerin Anne-Sophie Mutter selbst dirigiert, knüpft in seinem Schaffen an die unterschiedlichsten Idiome an – von Bach bis zum Blues, von der sinfonischen Tradition bis zur Clubkultur. Und doch erkennt man seine Musik sofort. Auch Igor Strawinsky liess sich von einer Vielzahl an Stilen anregen, zu seinem letzten Ballett Agon etwa durch ein französisches Tanztraktat aus dem 17. Jahrhundert. Agon entpuppt sich als muntere Revue stilisierter Tänze, die frühbarocke Modelle mit einer avancierten Tonsprache verschmilzt – und das grossbesetzte Orchester (inklusive Mandoline und Kastagnetten!) zu immer neuen, aparten Ensembles gruppiert. Eine abwechslungsreiche Folge instrumentaler Episoden präsentiert auch Per Nørgårds Drømmespil («Traumspiel»), während Witold Lutosławski in seiner Dritten Sinfonie mit der für ihn so typischen «kontrollierten Aleatorik» arbeitet: Auskomponierte Passagen wechseln sich ab mit Abschnitten, die den Musiker*innen grosse rhythmische Freiheiten gewähren – was pulsierende Klangflächen von packender Vitalität erzeugt.
Zeitgenössische Musik wird in Luzern schon länger gefördert und ist fest etabliert
Einige Koryphäen, Grössen zeitgenössischer Musik, wollten sich dieses spannende Konzert auch nicht entgehen lassen und waren deshalb im Saal anwesend, so u.a. Wolfgang Rihm, seit Sommer 2016 der Künstlerische Leiter der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY und Dieter Ammann, 2010 selbst composer-in-residence beim Lucerne Festival.
Das Orchester
Das Lucerne Festival Contemporary Orchestra (kurz: LFCO) versteht sich als Exzellenzorchester für die Aufführung neuer und neuester Musik. Es bildet das Pendant zum Lucerne Festival Orchestra und fokussiert sich auf Partituren des 20. und 21. Jahrhunderts, von den Klassikern der Moderne bis hin zu Auftragswerken, die in Luzern uraufgeführt werden.
Alle Mitglieder des LFCO haben von der Ausbildung in der von Pierre Boulez initiierten und heute von Wolfgang Rihm geleiteten Lucerne Festival Academy profitiert. Dank der engen Anbindung an die Academy und ihr Netzwerk ist das LFCO in der Lage, eine Vorreiterrolle in der Interpretation aktueller Musik und in der Entwicklung zukunftsweisender Konzertformate einzunehmen. In seinen Projekten nutzt es die Möglichkeiten der neuen Technologien; interdisziplinäre Arbeiten lassen neuartige Hör- und Konzerterlebnisse entstehen. Dies alles immer mit einer klaren Vision: making contemporary music happen.
Per Nørgård (*1932) Drømmespil (Traumspiel) für Kammerorchester
Nørgård entdeckte die melodische Unendlichkeitsreihe 1959 und sie erwies sich als Inspiration für viele seiner Werke in den 1960er Jahren. Doch erst seine Voyage into the Golden Screen für kleines Ensemble (1968) – das als das erste „eigentlich instrumentale Stück spektraler Komposition “ identifiziert wurde – und die Symphonie Nr. 2 (1970) lieferten die Struktur für ein ganzes Werk. Die harmonische und rhythmische Unendlichkeitsreihe wurden in den frühen 1970er Jahren entwickelt und die drei Reihen wurden erstmals in Nørgårds Sinfonie Nr. 3 integriert
Per Nørgård beschrieb sein Traumspiel im Jahre 1980 folgendermassen:
Das Stück könnte als Turnier eines Traums angesehen werden, bei dem die Teilnehmer sich vielleicht gegeneinander behaupten, dies jedoch tun, um sich an ihren Unterschieden zu erfreuen – nicht um sich gegenseitig zu zerquetschen. Hier treffen zum Beispiel ein David und ein Goliath zur großen Freude beider Parteien aufeinander. Und hin und wieder hören die Teilnehmer auf, sich gegenseitig anzugeben – und geben sich stattdessen innigsten Umarmungen hin.
Auf der formalen Ebene können die folgenden Passagen als eine Reihe von Variationen betrachtet werden.
Im Verlauf des Konzertes kommen noch drei andere Stücke der jüngeren Moderne zu ihrer Schweizer Erstaufführung, ein überraschender Abend, ganz der zeitgenössischen Musik, die ja in Luzern seit längerem sehr gepflegt wird, verschrieben.
Igor Strawinsky (1882–1971) Agon. Ballett für zwölf Tänzer
Das dem Choreographen Balanchine gewidmete Ballett-Spiel ohne Handlung für zwölf Tänzer komponierte Strawinski nach dem Muster stilisierter französischer Barocktänze; im »Canticum Sacrum«, einer hymnischen Kantate zu Ehren des heiligen Markus, hingegen wandte er altvenezianische Meisterpraktiken an. Zu beiden Werken jedoch mischt der beständige Avantgardist tonale Passagen mit punktuellem Webern-Sound und undogmatischen Reihen à la Schönberg,
Der lange Reifungsprozess der Komposition deckt einen interessanten Punkt in Stravinskys Kompositionskarierre ab, in der von einer diatonischen musikalischen Sprache zur 12Ton Technik wechselte; die Musik des Balletts demonstriert entsprechend eine eigene Symbiose von musikalischen Mitteln. Das Ballett erzählt keine Geschichte, aber besteht aus einer Serie von Tanzbewegungen, bei denen verschiedene Gruppen von Tänzern in Paaren, Trios, Quartetten etc. Interagieren.
Eine Reihe von Bewegungen basieren auf französischen Hoftänzen des 17. Jahrhunderts – Sarabande, Galliard und Bransle. »Canticum Sacrum ad Honorem Sancti Marci Nominis« ist ein 17-minütiges Chor- & Orchester Werk, das Igor Stravinsky (1882–1971) 1955 als Widmung an »die Stadt Venedig, als Ehrung von dessen Schutzheiligen, dem heiligen Apostel Markus« komponiert hat. Das Werk ist kompakt und stilistisch abwechslungsreich und reicht von etablierten, neoklassischen Modi zu experimentellen neuen Techniken.
Thomas Adès (*1971) «Air» für Violine und Orchester (Uraufführung)
«Air»für Violine und Orchester schrieb er für niemand Geringeren als Anne-Sophie Mutter als Auftragswerk der «Roche Commissions». Für einmal soll nicht die Virtuosität der Künstlerin im Zentrum stehen, sondern ihre legendäre Gesanglichkeit. Luftig, leicht und immateriell sei das Konzert geworden.
Uraufführung: Für Anne-Sophie Mutter hat Adès ein neues Werk für Violine und Orchester komponiert. Es antwortet in gewisser Weise auf das Violinkonzert «Concentric Paths» von 2005. Ein Kritiker aus den USA nannte dieses Werk einst «ein gutes Beispiel» dafür, wie bei Adès «der Zynismus und die Frechheit der Jugend einer neuen lyrischen Neigung» gewichen seien.
Er renne vor der Schönheit nicht weg wie andere zeitgenössische Komponisten, hat der 1971 in London geborene Komponist Thomas Adès unlängst in einem Interview gesagt. «Air» heisst das neue Werk, das er für die Geigerin Anne-Sophie Mutter geschrieben hat. Der charakteristische, intensive Geigenton der Solistin wird diese melodienhafte «Arie» prägen.
«Schöne» neue Musik angesichts unserer heutigen Zeit? Für Adès ist das kein Widerspruch: Denn die Suche nach Schönheit kann auch eine Utopie bedeuten, und hörbar ist das neue Stück auch als Lamento.
Die Solistin glänzte auch dank eines kongenialen Orchesters
Anne Sophie Mutters Spiel auf ihrer Stradivari löst sich immer klarer aus dem magistralen Orchester, konzentriert und trotzdem irgendwie ungebunden. Das Stück ist wie geschaffen für die Geigerin. Ihren singenden Klang, der selbst in oberster Höhe noch erwärmt.
Bei Adès wirkt das vermeintlich Gegensätzliche jedoch erstaunlich einheitlich und organisch. Genau das unterscheidet Adès von der Polystilistik eines Alfred Schnittke. Während der 1998 verstorbene russisch-deutsche Komponist unterschiedliche Stile und Charaktere zu einer scharf gezeichneten Collage zusammenführte, sucht Adès mehr die Einheit in der Vielfalt. Francisco Coll, der aus Spanien stammende, in Luzern lebende einzige Kompositionsschüler von Adès, spricht von einer Art «Homogenität im Heterogenen», die Coll auch für seine eigenen Werke reklamiert.
Wollte Anne-Sophie Mutter dezidiert etwas Ähnliches oder bewusst etwas anderes?
Als wir über das neue Stück sprachen, sind wir übereingekommen, dass es nicht etwas werden sollte, was ich schon einmal erprobt hatte. Also nicht einfach ein zweites Violinkonzert. Ich wollte tatsächlich etwas anderes erschaffen: Wir kamen schnell überein, dass das neue Werk mehr wie eine ausgedehnte Arie für Violine in einem Satz sein sollte.
Spielt also die Frage nach der Melodie eine zentralere Rolle als noch in «Concentric Paths»?
Richtig, das Werk fokussiert sich mehr auf den Aspekt Melodie und Linie, weniger auf komplexere Fragen nach Form und Gehalt, Harmonik und Klanglichkeit. Das neue Violinkonzert trägt demzufolge den Titel «Air», also «Aria». Es ist also ein liedhaftes Werk, und so wird die Violine im Vergleich zum Konzert «Concentric Paths» sehr viel melodischer behandelt. Die Linie der Solo-Violine von Anne-Sophie Mutter wird unterstützt von dem Orchester. Es drängt sich hinein und führt sie weiter, webt gewissermassen ein Netz.
Der Solopart und das Orchester bilden also ein in sich geschlossenes Ensemble wie im Barock und weniger einen Widerstreit, wie es oftmals im romantischen Solokonzert der Fall ist?
Es ist kein Stück mit offen ausgestellten Gegensätzen oder Widersprüchen, ja. Der Solopart und das Orchester bilden gemeinsam einen in sich geschlossenen, organischen Klangkörper. Wollte Anne-Sophie Mutter dezidiert etwas Ähnliches oder bewusst etwas anderes?
Als wir über das neue Stück sprachen, sind wir übereingekommen, dass es nicht etwas werden sollte, was ich schon einmal erprobt hatte. Also nicht einfach ein zweites Violinkonzert. Ich wollte tatsächlich etwas anderes erschaffen: Wir kamen schnell überein, dass das neue Werk mehr wie eine ausgedehnte Arie für Violine in einem Satz sein sollte.
Spielt also die Frage nach der Melodie eine zentralere Rolle als noch in «Concentric Paths»?
Richtig, das Werk fokussiert sich mehr auf den Aspekt Melodie und Linie, weniger auf komplexere Fragen nach Form und Gehalt, Harmonik und Klanglichkeit. Das neue Violinkonzert trägt demzufolge den Titel «Air», also «Aria». Es ist also ein liedhaftes Werk, und so wird die Violine im Vergleich zum Konzert «Concentric Paths» sehr viel melodischer behandelt. Die Linie der Solo-Violine von Anne-Sophie Mutter wird unterstützt von dem Orchester. Es drängt sich hinein und führt sie weiter, webt gewissermassen ein Netz.
Der Solopart und das Orchester bilden also ein in sich geschlossenes Ensemble wie im Barock und weniger einen Widerstreit, wie es oftmals im romantischen Solokonzert der Fall ist?
Es ist kein Stück mit offen ausgestellten Gegensätzen oder Widersprüchen, ja. Der Solopart und das Orchester bilden gemeinsam einen in sich geschlossenen, organischen Klangkörper. Das ist tatsächlich der Barock-Zeit ähnlich, aber ich würde sogar noch weiter zurückgehen: In der spezifischen Kontrapunktik würde ich auch eine Verbindung zu den englischen Reformatoren der Musik wie Thomas Tallis oder William Byrd aus dem 16. Jahrhundert sehen. In diesem Geflecht wirkt die Violine wie ein goldener Strahl. Es ist also kein Solo-Konzert im herkömmlichen Sinne.
Das Publikum feierte Solistin, Komponist & Dirigent, sowie das Orchester mit einer langanhaltenden «Standing Ovation».
Witold Lutosławski (1913–1994) Sinfonie Nr. 3
Witold Lutoslawski gestaltet die sinfonische Form mit seiner spezifischen Anwendung der Aleatorik: auskomponierte Abschnitte wechseln mit “Ad-libitum”-Passagen, in denen das Notenmaterial von den Spielern frei zu variieren und zu rhythmisieren ist.
Lutosławskis Verzicht auf die übliche Norm von vier Sätzen
Lutoslawski verzichtet auf die traditionelle Viersätzigkeit und begnügt sich mit zwei Sätzen, von denen der erste lediglich vorbereitenden Charakter trägt. So gelang es ihm, die Gattung der Sinfonie mit neuem Leben zu erfüllen. Seine 1983 vollendete Dritte ist ohne Zweifel sein sinfonisches Hauptwerk. Ihr dramatisch-tragischer Gestus und die meisterhafte kompositorische Dramaturgie setzen sie in die Nachfolge großer europäischer Sinfonik, trotz oder gerade wegen der neuartigen Form. Eine Komposition, die dank ihrer Rasanz und Dichte über alle Attribute verfügt ein Ohrwurm, gar ein veritabler Klassiker zu werden, vor allem, wenn sie so engagiert vorgetragen wird, wie zum Schluss des Konzertabends von diesem phantastischen Orchester unter der magistralen Ägide von Thomas Adès.
Das Auditorium war dementsprechend begeistert und spendete langanhaltenden, stürmischen Applaus für ein ebenso ungewöhnliches, wie auch begeisterndes Konzerterlebnis.
Text: leonardwuest.ch
Fotos: Priska Ketterer https://www.lucernefestival.ch/de
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