Besetzung und Programm:
NDR Elbphilharmonie Orchester
Iveta Apkalna Orgel
Esa-Pekka Salonen Dirigent
Jean Sibelius
Rakastava (Der Liebende) op. 14 / Suite für Streichorchester, Pauken und Triangel
Esa-Pekka Salonen
Sinfonia concertante / Kompositionsauftrag von National Symphony NOSPR Katowice, Berliner Philharmoniker, Finnish Radio Symphony Orchestra, Philharmonie de Paris, Los Angeles Philharmonic und Elbphilharmonie Hamburg
Hector Berlioz
Liebesszene / aus: Roméo et Juliette / Dramatische Sinfonie op. 17
Alexander Skrjabin
Le poème de l’extase für großes Orchester op. 54
«Im Rausch der Liebe», Motto des Internationalen Musikfest Hamburg 2023
Grundsätzliches zum Dirigenten – Komponisten
Der Allmacht des Orgelklangs stellt der Dirigent Salonen in einem klug komponierten Programm Orchesterwerke zwischen »soft« und »powerful«, zärtlicher Liebe und fast wahnsinniger Ekstase gegenüber. Jean Sibelius fing in seiner Suite »Rakastava« (Der Liebende) mit den bescheidenen, aber ungeahnt visionären Farben von Streichorchester und Schlagzeug eher die lyrisch-gefühlvollen Momente einer jungen Liebe ein – so wie sie in den inspirierenden Gedichten aus Elias Lönnrots finnischer Volkssammlung »Kanteletar« geschildert werden.
JEAN SIBELIUS (1865 – 1957) Rakastava (Der Liebende) – Suite op. 14 für Streichorchester, Pauken und Triangel
Jean Sibelius war lange ein Streitfall. Einerseits wurde er bewundert für
den langen Atem und die genial geplante »Architektur« seiner Werke.
Andererseits kam der Finne gerade in den mitteleuropäischen Hochbur-
gen der Musik nicht gut weg.
Am prominentesten äußerte der Musik-
philosoph Theodor W. Adorno sein Unbehagen an der finnischen Kultur.
Sibelius, so Adorno, sei nicht einmal im Stande, »einen vierstimmigen
Satz auszumessen«. Seine »Originalität« bestünde in einer »Hilflosig-
keit«, die »ein unverständliches Ganzes aus den trivialsten Details« pro-
duziere.
Zum Glück sind solche Worte heute passé. Sibelius ist heute regelrecht
beliebt – und Gründe für die Anerkennung liefert unter anderem seine klei-
ne Suite »Rakastava«, zu Deutsch: der Liebende.
In späteren Jahren einige Male umgeschrieben
Ursprünglich im Jahre 1893 für Chor komponiert, überarbeitete Sibelius das Werk einige Male, aber erst 1912 bearbeitete der Finne die Geschichte aus dem finni-
schen Nationalepos »Kanteletar« rein instrumental um für Streicher,
Pauken und Triangel.
Es ist eine luftige, sanfte instrumentierte Musik in drei abwechslungsrei-
chen Sätzen mit verschiedenen Stimmungen. Vor allem der zweite Satz, den er mit einem Violinen Pizzicato eröffnet, zeigt Sibelius‘ ganz eigenwilligen Personalstil. Um nur wenige Zentraltöne kreisen die Streicher in ihrer fließenden Triolen-Bewegung und in mancher Wiederholung. zeugen von der enormen Spannung, die Salonen dieser Partitur zu verleihen vermag.
Salonen motiviert das Orchester zu Höchstleistungen
Die Phrasierungen sind stets bestens aufeinander abgestimmt, Bögen werden weit gespannt und verlieren nicht an Binnenspannung, hier wird einfach eine in allen Details überzeugende, hervorragende Interpretation geboten. Denn selten hört man ein Orchester, das scheinbar bis in die Fingerspitzen angespannt ist, um die Vorgaben seines Dirigenten umzusetzen. So entsteht eine energiegeladene Realisation, die an Verve und Freude am Detail schwer zu überbieten ist.
Diese Meinung schloss sich das Publikum mittels eines langanhaltenden Applauses an.
ESA- PEKKA SALONEN (*1958) Sinfonia concertante für Orgel und Orchester
In seinem neuen Werk »Sinfonia concertante« widmet sich der hochproduktive Komponist der »Königin der Instrumente«, also der Orgel, die ja mit ihren mannigfachen Pfeifen und Registern locker ein ganzes Orchester ersetzen könnte. Am spektakulären Surround-Instrument der Elbphilharmonie: nahm nun deren Titularorganistin, die Lettin Iveta Apkalna, die am 11. Januar 2017 auch als Solistin beim Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie mit von der Partie war, Platz.
Der erste mit dem Titel Pavane and Drones beginnt mit einer schönen Klangmischung aus Piccoloflöte und kristallklaren hohen Orgelregistern. Was darauf folgt ist leider zum größten Teil atonales melodisches Material, das zwischen verschiedenen Orchestergruppen hin und her geschoben und dabei ordentlich durchgenudelt wird. Für die Orgel ist dieses Konzept denkbar ungeeignet. Hier gibt es pro Ton nur die Wahl: an oder aus, Luft durch die Pfeife oder nicht. Das macht es nicht leicht, aus einem undifferenzierten Notenstrom Phrasen herauszuschälen.
Salonens Streicher aber sind äußerst effektiv und lassen das NDR Elbphiharmonieorchester gleichzeitig dicht und durchscheinend klingen. Es ist auch aufregend zu hören, wie Apkalna von ihrem Platz an der Orgel aus das gesamte Orchester überstrahlt – sie bespielt das ganze Gebäude. Nach dem eher traditionellen Höhepunkt der Sinfonia kommt von der Lettin ein Ton, der so tief ist, dass der Saal fast bebt. Leider vergeudet Salonen hier seine Chance und macht fast sofort weiter.
Der zweite Satz
Der zweite Satz der Sinfonia concertante, Variations and Dirge, beginnt mit einer einzigen gestrichenen Crotale: ein hübscher Klang, wenn auch ein wenig wie Neue Musik von 2012. Salonen meint Variationen eindeutig im klassischen Sinne, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass die üppige Streichermelodie, die auf den Crotale-Ton folgt, in ihren verschiedenen Entwicklungen leicht nachzuvollziehen ist. Diese Leistung erscheint nur noch größer, wenn man bedenkt, dass die Melodie atonal ist, mit wenigen intervallischen Kombinationen, die für sich genommen auffällig sind und dass Salonen die Variationen gut orchestriert.
Auch in diesem Satz gibt es Figurationen ohne Ziel, das uninspirierte Material wird hier zum verbindenden Element. Die Orgelkandenz am Ende ist allerdings der beste Teil des ganzen Werks: Sie bewegt sich in einem weichen, hauchdünnen Bereich und gibt die Figurationen zugunsten von Erkundungen von Intervallen und Klangfarben auf. Ein besseres Stück in einer anderen Dimension.
Deutlicher ausgearbeitet im finalen Satz
Der letzte Satz, Ghost Montage, arbeitet mit deutlicher erkennbaren, eigenständigeren melodischen Zellen. Damit ist die Krux des ersten Satzes gelöst; Salonen hat sich für eine Seite entschieden. Aber die traditionelleren Motive bringen ein weiteres Problem mit sich. Der Satz klingt ein bisschen zu sehr nach einer Verfolgungsjagd auf Kinoleinwand, mit durchdringenden Streicheroktaven und virtuosen steigenden Sequenzen in der Orgel. Außerdem ist er durchweg sehr laut, und wie jeder, der schon einmal neben sich ein Telefongespräch in der U-Bahn erlebt hat, weiß, gibt es häufig eine Korrelation zwischen Lautstärke und Nerv Potential. Wenigstens endet die Sinfonia concertante nicht mit einem effektheischenden Knall, sondern schon fast unspektakulär.
HECTOR BERLIOZ (1803 – 1869) Scene d’amour aus der Symphonie Dramatique „Romeo et Juliette“ op. 17
Ähnlich unspektakulär machte es Hector Berlioz in seiner romantischen musikalischen Fassung der berühmten »Balkonszene« aus Shakespeares »Romeo und Julia«. Mit fluoreszierenden Farbpigmenten, brillanter Transparenz sogar bei hohen Lautstärken und einer pointierten Modellierung der dramatischen Akzente durch die diversen Register und Soloseqenzen.. Beim Residenzorchester und Salonen stimmt jeder Akzent. Akustisch gerät Berlioz› Geniestreich zu einer idealen Wiedergabe, die trotz ihrer geschmeidigen Eloquenz und vitalen Leichtigkeit nicht zum dramatischen Fliegengewicht wird gegenüber dem vorherigen und dem nun nachfolgenden Werk. Auch hier geizte das gutaufgelegte Publikum nicht mit Applaus.
Alexander Skrjabin Le poème de l’extase für großes Orchester op. 54
Alexander Skrjabin dagegen beließ es in seinem riesig besetzten »Poème de l’extase« von 1908 nicht bei sanften Andeutungen. Sein von manchem Zeitgenossen als »obszön« empfundenes Werk gipfelt in einem wahren Orchesterrausch. »Es war wie ein Eisbad, Kokain und Regenbogen«, kommentierte das der amerikanische Schriftsteller Henry Miller. Auf dem Weg von der Romantik zur Moderne stand die Auflösung der Tonalität durch den synthetischen, sogenannten mystischen Akkord aus sechs überlagerten Quarten, dem Skrjabin symbolischen Wert zumaß. Außerdem die assoziative Verbindung von zwei Sinneserfahrungen: Tönen und Farben – do entspricht Rot, re dem Gelb, sol Orange.
Skrjabin wollte ein Gesamtkunstwerk schaffen, anders zwar als Richard Wagner, doch mindestens so anspruchsvoll. Sogar Körperempfindungen sollten mit Klängen verbunden werden. Als junger Musiker stand er unter dem Einfluss von Chopin und Wagner. Tschaikowskys Musik lehnte er als „schlechte Volkstümlichkeit“ ab. Denn Kultur war für Skrjabin höchste Vergeistigung. Im Laufe der Jahre hat er sich ohnehin von allen befreit und entwickelte seinen radikal persönlichen Stil.
Der 2. Sinfonie c-Moll von 1901 hat er eine Art Programm unterlegt: Lebenskampf – Sieg oder Untergang, aber ohne Gesang auf Worte wie noch in seiner Ersten. Vier Sätze rahmen – jeweils zwei und zwei attacca verbunden – einen langen naturszenenen Mittelsatz. Den Schlusssatz, der nach Dur wechselt und Fanfarentriumph hören lässt, soll Skrjabin selbst als etwas missglückt beurteilt haben. Zu plakativ! Aber es gelingt Salonen und den Musikern des NDR Elbphilharmonieorchesters, ihn dank Dynamik
und Phrasierung und mit feiner Tonbildung ohne falsches Pathos zu spielen. Zudem klingt durchgängig überzeugend, wie das Motto oder Thema der Sinfonie behandelt wird: Es tritt sehr oft auf – was man als Hörer erst nach und nach wahrnimmt, denn es klingt immer wieder neu. Die Interpretation bietet dem Ohr eine sprechende und bedeutungsnuancierte, farbige Klangwelt.Dann richtete der russische Komponist nach und nach mit der grösseren Kelle an und überführte die Partitur in einen äusserst geschickten, nervenaufreibenden Schlussteil.
Der finnische Dirigent mäanderte dem Finale entgegen kontinuierlich die Spannung aufbauend die schlussendlich in einen akustischen Orgasmus mündete.
Das begeisterte Auditorium feierte die Ausführenden mit einer langanhaltenden Standing Ovation.
Die längste Rolltreppe Westeuropas in der Elbphilharmonie Hamburg
www.youtube.com/watch?v=3r2JAQYcCIY
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: Léonard Wüst und ttps://www.ndr.de/orchester_chor/elbphilharmonieorchester/
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