Migros-Kulturprozent-Classics, BALTIC SEA PHILHARMONIC, KKL Luzern, 21.11. 2023, besucht von Léonard Wüst

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BALTIC SEA PHILHARMONIC Foto Bernd Possardt

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Die jungen Solisten des Baltic Sea Philharmonic treten ins Rampenlicht, Kristjan Järvi (links) steht als Motivator, nicht als allmächtiger Dirigent inmitten der Musiker seines Orchesters. Foto Bernd Possardt

Besetzung und Programm:
Baltic Sea Philharmonic
Kristjan Järvi – Leitung
Olga Scheps – Klavier
PROGRAMM — «NUTCRACKER REIMAGINED»
Kristjan Järvi: «Ascending Swans», basierend auf «Lobgesang» aus der Bühnenmusik von Jean Sibelius zu «Schwanenweiss» op. 54
Peter Tschaikowski: «Der Nussknacker», dramatische Sinfonie nach der Ballettmusik op. 71, arrangiert von Kristjan Järvi (Auszüge)
Edvard Grieg: Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 16
Arvo Pärt: «Swansong» für Orchester
Edward Elgar: «Nimrod» aus «Enigma-Variationen» op. 36
Marius Malancheti Winter Sky
Maria Mutso Sireen
Kristjan Järvi Stringsong Infinity
Johnny Kliemek Precision

Es ist nirgendwo in Stein, respektive in Noten gemeisselt, dass klassische Musik per se todernst sein muss.Kristjan Järvi und sein jugendliches Orchester manifestierten dies einzigartig und rockten den KKL Konzertsaal.

Wenn das Publikum die Musiker*innen minutenlang stehend feiert und der Chef derselben wie ein Kobold auf der Bühne rum hüpft ist das nicht unbedingt ein Konzert der «Rolling Stones» im Hallenstadion und der hüpfende Derwisch nicht zwangsläufig Mick Jagger.
Kaum vorstellbar, aber es ist tatsächlich der fulminante Abschluss eines Konzertes der Migros Kulturprozent Classics Reihe im Luzerner KKL..

Bei Kristjan Järvis Projekt «Nutcracker Reimagined» wird die Werkfolge aufgelöst, die einzelnen Stücke gehen gleichsam assoziativ ineinander über. In dem rund neunzigminütigen Klangstrom bildet Järvis eigene Adaption der «Nussknacker»-Musik von Peter Tschaikowsky einen roten Faden; andere Werke, darunter die drei separierten Sätze von Edvard Griegs Klavierkonzert mit Olga Scheps, werden zwanglos integriert.

Ein Orchester in ständiger Bewegung

Kristjan-Jaervi-dirigiert-das-Baltic-Sea-Philharmonic-Foto-Peter-Adamik

Dazu bewegen sich die während des gesamten Konzerts auswendig und im Stehen spielenden Musiker kreuz und quer über die Bühne, auch Järvi selbst schaut ab und an in den hinteren Reihen nach dem Rechten. Stimmungswechsel und einzelne Solisten werden obendrein durch eine farbenfrohe Lichtregie hervorgehoben.

Mal positionieren sich eine Handvoll Musiker*innen, wie wir als Buben bei den Pfadfindern knieend ums Lagerfeuer, und übernehmen abwechselnd Soloparts, befeuert von den Gesten des Dirigenten.

Kristjan Järvi verkörpert die neue Generation von Dirigent*innen

Dirigent Kristjan Jaervi Foto Sunbeam Productions Siiri-Kumari

Es ist diese neue Generation von Dirigenten, dazu zähle ich, nebst Kristjan Järvi, z.B. auch Teodor Currentzis, Tugan Sokhiev, die Ukrainerin Oksana Lyniv und auch den Schweizer Titus Engel, die durchaus die Aura von gefeierten Popstars verströmen und mit ihrem Charisma, nicht nur das Publikum, sondern zuerst und vor allem, ihre Mitmusiker motivieren und begeistern und so auf die Reise in diese neuen Welten der Klassik Interpretationen mitnehmen.

«Nutcracker Reimagined» ein Konzert der anderen Art: ein Gesamtkunstwerk aus Musik und Licht, gespielt vom jungen Baltic Sea Philharmonic (Durchschnittsalter der Musiker*innen 23 Jahre) – stehend, auswendig und mit vollem Körpereinsatz.

«Nutcracker Reimagined» nimmt mit auf eine musikalische Reise. Den Auftakt macht das Stück «Ascending Swans», komponiert von Dirigent Kristijan Järvi selbst, basierend auf der Bühnenmusik von Jean Sibelius zu «Schwanenweiss».

Kristjan Järvi knackt die Nuss der verkrusteten Strukturen

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Anschliessend begibt man sich in die Welt des «Nussknackers», mit einer neu arrangierten, dramatischen Sinfonie nach der Ballettmusik von Tschaikowski. Dann betritt die phänomenale Pianistin Olga Scheps die Bühne – mit Edward Griegs Klavierkonzert a-Moll.

 

 

 

Nahtloser Übergang von Tschaikowski zu Grieg

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Vom Nusskacker steigt Kristjan Järvi nahtlos frisch und forsch in das sehr viel gehörte Klavierkonzert des norwegischen «Nationalheiligen» Edvard Grieg ein, das die Streicher mit dunklen Untertönen, die Holzbläser mit fein abschattierten Pastelltönen, das Blech edel gerundet angehen. Olga Scheps am Flügel wirkt darin erfrischend aufgeräumt und gutgelaunt.

 

Pianistin Olga Scheps Foto Uwe-Arens

Sie setzt auf vollgriffige romantische Attacke, ihr Fortissimo ist dabei freilich nie plärrend laut, sondern wohl gerundet, sie trifft für Grieg die ideale Mitte aus packendem und poetischem Zugriff. Ja, dieser Grieg klingt wie ein nordischer Brahms, mal so gar nicht verniedlicht. Ein feuriger cooler Nordländer, ja das gibt’s, wie Scheeps, eine Pianistin von meisterhafter Eleganz, Kraft und Einsicht, eindrücklich demonstrierte, sehr zur Freude des sachkundigen Auditoriums. Die Pianistin reißt das Publikum mit entschiedenem Anschlag und einer angenehmen Dosis an Präzision und Klarheit mit sich. Im Adagio rollt dann zwar auch das Orchester einen wunderbar samtenen Klangteppich aus, gesamt gesehen bleibt es aber meist wohltuend zurückhaltend und überlässt der Solistin die Oberherrschaft.
Der Dirigent lässt der Russin nicht nur viel Freiheiten, er bestärkt sie gar darin mit Gesten und Blicken.
Diese weiss diesen Auslauf weidlich zu nutzen, präzis ihre Staccato, feinfühlig die perlenden Läufe liebevoll, streichelt sie das Elfenbein unter ihren Fingern, ohne deshalb verweichlicht zu tönen, denn die gebürtige Moskovitin kann auch sehr energisch, wo vom Komponisten angedacht. Sie führt das Orchester durch die anspruchsvolle Partitur, ohne voranzutreiben, immer in Symbiose mit dem jugendlichen nordischen Orchester, das von Kristjan Järvi mit Gesten, Kopfzeichen, ach mal mit hüpfen usw. geleitet wird. Der gebürtigen Este, Mitbegründer des aus Musiker*innen der Ostseeanrainerstaaten bestehenden Klangkörpers  bewegt sich durch die lose aufgereihten Musiker*innen, motiviert hier mit einem Fingerzeig, dort mit einem intensiven Augenkontakt.

Auch die Werke stammen von Komponisten aus der Heimatregion des Orchesters

Den Abschluss des Programms machen Arvo Pärts «Swansong» für Orchester und Edward Elgars «Nimrod» aus «Enigma-Variationen».
Die ganzen Abläufe haben auch etwas mystisches mit einem Kristjan Järvi als eine Art Guru dazwischen, der mit einer verschworenen Truppe Musk zelebriert und auch optisch aufbereitet.

Vertreter einer estnischen Musikerdynastie

Kristjan Jaervi Foto Siiri Kumari

Der jüngere Bruder des Tonhalle-Chefs Paavo Järvi experimentiert gern mit neuen Konzertformen. Sein «Nutcracker Reimagined»-Projekt rüttelt auf unterhaltsame, auch anregende Weise an den Strukturen des klassischen Musikbetriebs.
Kann man Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Musikern hören? Die Frage liegt bei keinem Brüderpaar so nahe wie bei Paavo und Kristjan Järvi. Denn sowohl der Musikdirektor des Tonhalle-Orchesters als auch sein zehn Jahre jüngerer Bruder sind international erfolgreiche Dirigenten. Zudem wurden beide schon in frühester Jugend durch die Persönlichkeit und den Erfahrungsschatz ihres Vaters Neeme geprägt, der als Patriarch dieser Dirigentenfamilie den Namen Järvi mit über 400 CD-Einspielungen zu einer Marke gemacht hat.
Und tatsächlich: Es gibt zwischen den Järvi-Söhnen bemerkenswerte Ähnlichkeiten in der Körpersprache. Beide pflegen einen ausgesprochen pragmatischen, im Kern fast nüchternen Dirigierstil, der auf die optimale Umsetzung des Notentextes fokussiert ist. Auf dieser handwerklichen Ebene braucht es keine grossen Gesten; für interpretatorische Akzente sorgen beide hingegen durch die intensive Interaktion mit jedem einzelnen Musiker, vor allem über den Blickkontakt. Trotzdem ist Kristijan Järvi nicht einfach der jüngere Doppelgänger von Zürichs Paavo.

Ein Kollektiv-Kunstwerk

Als Benjamin der Musikerdynstie Järvi nimmt sich Kristjan Järvi das Recht, aus der Reihe zu tanzen. Mit seinem Baltic Sea Philharmonic, einem Ensemble, das er 2008 zunächst als Jugendorchester am Usedomer Musikfestival gegründet hat, mischt er gezielt den Musikbetrieb auf. Järvi zielt dabei auf die seit dem 19. Jahrhundert kaum veränderten Gepflogenheiten des klassischen Konzerts.

Nicht “normale” Stückabfolge

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Warum muss man die Werke eines zuvor festgelegten Programms immer säuberlich voneinander getrennt und der Reihe nach abarbeiten? So fragt er sich beispielsweise. Warum müssen die Mitglieder eines Sinfonieorchesters immer starr nach einer wenig variablen Sitzordnung auf der Bühne Platz nehmen, traditionell ausgerichtet auf den Dirigenten? Und warum nicht auch einmal die Hierarchie zwischen dem Podium und der weitgehend passiven Hörerschaft im dunklen Saal durchbrechen? So animiert der Dirigent nicht nur seine Mitmusiker*innen, sondern auch das Auditorium mit Gesten und auffordernden Blicken.

Konzept soll auch junges Publikum in die Konzertsäle holen

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Neue Formen um eine neue, jüngere Zielgruppe in die Konzertsäle zu holen
Solche Überlegungen stellen mittlerweile viele Interpreten an, um den Zugang zu klassischen Konzerten, gerade für Neulinge, zu erleichtern. Das Publikum «abholen» heisst das im Zeitgeist-Jargon – Krystian Järvi aber macht damit auf ebenso radikale wie unterhaltsame Weise Ernst. Bei seinem auf der Tournee präsentierten Projekt «Nutcracker Reimagined» wird die Werkfolge aufgelöst, die einzelnen Stücke gehen gleichsam assoziativ ineinander über. In dem rund neunzigminütigen Klangstrom bildet Järvis eigene Adaption der «Nussknacker»-Musik von Peter Tschaikowsky einen roten Faden; andere Werke, darunter die drei separierten Sätze von Edvard Griegs Klavierkonzert mit Olga Scheps, werden zwanglos eingeflochten

Überraschende, sehr erfrischend anregende Inszenierung

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Dazu bewegen sich die auswendig und im Stehen spielenden Musiker*innen kreuz und quer über die Bühne, auch Järvi selbst schaut ab und an in den hinteren Reihen nach dem Rechten. Stimmungswechsel und einzelne Solisten werden obendrein durch eine farbenfrohe Lichtregie hervorgehoben. Das Ergebnis erinnert eher an eine Performance, an einen Flash-Mob oder auch an ein Filmkonzert, bei dem die Darbietung selbst der beste Film ist. Die Suggestivität dieses Musik-Happenings trifft jedenfalls beim Publikum auf offene Ohren und wache Sinne – am Ende gibt es Ovationen für ein nahezu perfekt durchchoreografiertes überraschendes Konzerterlebnis.

Neue Konzertformate

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Aber ist dies nun das Konzert der Zukunft? Sicher nicht, dazu sind die praktischen Zwänge und auch die Beharrungskräfte des Musikbetriebs zu stark. Traditionalisten dürfte das beruhigen. Allerdings hat jüngst auch Paavo Järvi – nach seiner vollzogenen Vertragsverlängerung in Zürich – angekündigt, er wolle verstärkt mit neuen Konzertformaten experimentieren. Es liegt offenbar in der Familie.
Kristjan Järvi und sein Orchester werden ihr Ding durchziehen und uns noch etliche Male überraschen und zum Staunen bringen. Dass dies nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stossen wird ist ebenso sicher wie die Gewissheit, dass dies den Dirigenten und seine Truppe nicht aufhalten wird, neue Wege zu beschreiten, die gewohnten Pfade zu verlassen.
Das Publikum jedenfalls honorierte diesen besonderen Konzertgenuss mit einer nicht enden wollenden begeisterten stehenden Ovation und etliche hüpften gar mit, wie es der Dirigent auf der Bühne vormachte.

Das animierte die Protagonisten dazu, noch eine längere Zugabe zu geben, auch diese genossen und bejubelt vom Auditorium.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: Reto Bösch und  http://www.migros-kulturprozent-classics.ch/  

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Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Kristjan Jaervi Leitung Foto Siiri Kumari

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Olga Scheps Solistin am KlavierFoto Uwe Arens

Konzertimpression Foto Maria Ulrich

Konzertimpression Foto Maria Ulrich