Luzern (ots) – Laut OSZE gelten über 50 Staaten als fragil. Sie sind nicht in der Lage, ihre Kernaufgaben wie den Schutz der Bevölkerung oder soziale Dienstleistungen wahrzunehmen und weisen grosse rechtsstaatliche Defizite auf.
Sie sind vielfach Schauplatz von gewaltsamen Konflikten, die Sicherheitslage ist äusserst prekär. Gleichzeitig gehört eine Mehrheit der fragilen Staaten zu den ärmsten Entwicklungsländern, den Zielländern der Entwicklungszusammenarbeit. Von den grossen Herausforderungen, die sich dabei „in den Zwängen fragiler Staatlichkeit“ stellen, handelt ein neues Caritas-Positionspapier.
Irak, Syrien, Libyen, Südsudan – fragile Staaten dominieren die medialen Schlagzeilen. Nicht erst der blutige Feldzug der Terrormiliz „Islamischer Staat“ führt erschreckend vor Augen, was es heisst, wenn keine staatliche Institutionen das Leben der Bevölkerung schützen können, wenn gewaltbereite Organisationen die Situation destabilisieren und die Macht an sich reissen. Oder wenn, wie in Libyen, ein gewähltes Parlament aus Angst vor der Gewalt der verschiedensten Milizen seine Tagungen auf ein Schiff nahe der Grenze zu Ägypten verlegen musste, um einigermassen sicher zu sein. Oder wenn, wie im Südsudan, der rücksichtslose Kampf zweier gewalttätiger Politiker um die Macht zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat. Doch sind solche Beispiele nur die Spitze des Eisbergs fragiler Staatlichkeit. Zwei Drittel der fragilen Länder gehören gleichzeitig zu den am wenigsten entwickelten Ländern. Grosse Teile der Bevölkerung verfügen dort nicht über ausreichend Nahrungsmittel, leben in extremer Armut oder sind auf der Flucht vor Gewalt und Elend.
Die Fragilität findet ihren zerstörerischen Ausdruck in Form traumatisierter Gemeinschaften, zerbrochener Beziehungen, wirtschaftlichem Desaster. Die vielfach gezielt terrorisierte Zivilbevölkerung steht dabei immer auf der Seite der Verlierer. Der Verlust von Angehörigen und Eigentum, die Erfahrung von systematischer Gewaltausübung, Exekution, Folter und sexuellem Missbrauch fügen den Menschen unbeschreibliches Leid zu. Dies hinterlässt Spuren über mehrere Generationen hinweg. In den unbewältigten Traumata liegen die Wurzeln künftiger Konflikte, sei es innerhalb der Familie, der Gemeinschaft oder des Staates.
New Deal und Zivilgesellschaft
Es wurde höchste Zeit, dass fragile Staatlichkeit mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen auf die internationale politische Agenda nach oben rückte. 2011 zeichneten fragile Staaten und Geberländer den sogenannten „New Deal für ein Engagement in fragilen Staaten“, dem auch die Schweiz beigetreten ist. Gemeinsam haben sie darin eine Reihe von staats- und friedensbildenden Zielen gesetzt, mittels derer sie schrittweise Stabilität erreichen wollen. Es geht unter anderem um Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Beschäftigung und verantwortungsvolle Dienstleistungserbringung.
Noch lässt sich nicht sagen, ob dieser New Deal Früchte tragen wird. Dass der Südsudan mitmacht und dennoch im Bürgerkrieg versinkt, stimmt nicht nur optimistisch – auch nicht, dass dessen Regierung angekündigt hat, allen Ausländern und Ausländerinnen die Arbeitsgenehmigung zu entziehen, und auch die Nichtregierungsorganisationen anweisen werde, ihre ausländischen Mitarbeitenden zu entlassen und die Stellen mit Einheimischen zu besetzen. Denn diese leisten gemeinsam mit lokalen Organisationen lebenswichtige humanitäre Hilfe und engagieren sich mit Entwicklungsprogrammen langfristig für die Verbesserung der Situation der armen Bevölkerung Südsudans.
Überhaupt mangelt es dem New Deal an Verständnis für die Wichtigkeit einer eigenständigen Zivilgesellschaft. Dies könnte zu einem Stolperstein werden, denn ohne das Mitwirken zivilgesellschaftlicher Organisationen bei Friedens- und Entwicklungsprozessen ebenso wie beim Aufbau von Dienstleistungen dürften die ehrgeizigen Ziele des New Deal nicht erreicht werden.
Entwicklung auf dem Prüfstand
In fragilen Kontexten sehen sich Akteure der Entwicklungszusammenarbeit äusserst komplexen Herausforderungen gegenüber und müssen sich fragen, wie sie angesichts des konfliktgeprägten Umfelds nachhaltig Wirkung erzeugen können. Dabei bewegen sie sich im Spannungsfeld zwischen menschlicher Sicherheit und Entwicklung: Einerseits braucht es Investitionen in Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und leistungsfähige staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen. Andererseits will die Entwicklungszusammenarbeit gemäss ihrem Grundverständnis Entwicklungsimpulse auslösen, damit benachteiligte und arme Bevölkerungsgruppen weniger krisenanfällig werden und ihre Lebenssituation verbessern können. Es muss vermieden werden, dass die Sicherheitsperspektive diesen Entwicklungsfokus zu stark einengt.
Doch ist dies alles andere als einfach. Ein Engagement in fragilen Kontexten steht vor grossen Herausforderungen, insbesondere in Konfliktregionen, wo sich Situationen und Konfliktlinien jederzeit ändern können. Hilfswerke wissen aufgrund langjähriger und vielfältiger Erfahrungen um die Risiken im Umfeld fehlender oder fragiler Staatlichkeit. Indem sie diese Kenntnisse zum Ausgangspunkt ihres Handelns machen, sind sie in der Lage, einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung zu leisten, deren Selbsthilfekapazitäten zu fördern und sie dabei zu stärken, ihre Rechte gegenüber staatlichen Stellen zu verstehen und wahrzunehmen. Dabei arbeiten sie gewaltpräventiv: es geht um die Verhinderung direkter Gewalt bei der Konfliktaustragung, aber auch um die Transformation gesellschaftlicher und staatlicher Gewaltstrukturen im Sinne der Friedensförderung.