Der dritte Teil des aktuellen Zyklus zum formalen und motivischen Exzess zeigt die raumfüllende Installation Kaprow City (2006/2007) von Christoph Schlingensief (1960-2010). Exzess ist ein universales Thema in der Kunst, das im Sinne eines entgrenzten, postmodernen Werkbegriffs gleichermassen motivisch wie formal zur Anwendung kommt. Schlingensiefs Werk schliesst an diese Stichworte an: Mit seinen überbordenden Materialschlachten und unkonventionellen Narrationen schafft Schlingensief fliessende Übergänge zwischen den Kunstgattungen.
Als Ausgangslage für Kaprow City diente Schlingensief 18 Happenings in 6 Parts (1959) des amerikanischen Künstlers Allan Kaprow (1927-2006). Kaprow City wurde ursprünglich als begehbare Installation auf einer Drehbühne an der Volksbühne in Berlin konzipiert. Anlässlich seiner zu Lebzeiten grössten Einzelausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst (2007/2008) erweiterte Schlingensief das Werk im Sinne einer (Re-)Dekonstruktion und ergänzte das Setting mit Sequenzen aus dem Film Fremdverstümmelung (2007) sowie weiteren eigenen Filmen.
Das künstlerische Schaffen Christoph Schlingensiefs gleicht einem Streifzug durch die Künste. Schlingensief betätigte sich vom Filmemacher zum politischen Aktionskünstler, vom Theater- und Opernregisseur zum Schauspieler, vom Maler zum Kolumnenautor. In seinem OEuvre de- und rekonstruiert er komplexe und sich überlagernde Bildwelten, die sich einer Linearität und klassischen Narration verweigern und die Rezeptionsgewohnheiten der Betrachter herausfordern. Im multimedialen Werkkomplex Kaprow City, ursprünglich als begehbare Installation auf einer Drehbühne an der Volksbühne in Berlin entstanden, manifestiert sich ein einschneidendes Übergangsmoment vom Theater in die bildende Kunst im Schaffen von Schlingensief. Der Aufbau der fragmentierten Bühne, die in einem äusseren Ring verschiedene betretbare Kammern hatte, ist eine Hommage an Allan Kaprow. Zentrales Anliegen Kaprows war das Überführen von theatralen und musikalischen Elementen in die bildende Kunst, um diese aus ihrer malerisch-kontemplativen Stagnation zu befreien. Dies sollte jedoch nicht durch artifizielle, künstlerische Handlungen geschehen, sondern durch einfache und alltägliche Verrichtungen wie dem Auspressen einer Orange. 18 Happenings in 6 Parts (1959) zählt zu den bekanntesten Happenings des Künstlers, der sich mit dieser Bezeichnung für eine neue Kunstgattung aussprach. Indem der Betrachter durch räumliche Trennungen daran gehindert wurde, alle stattfindenden Handlungen (Happenings) gleichzeitig zu sehen, wurde die Idee eines fragmentarischen Sehens und Erlebens gefördert. Für Kaprow City übernahm Schlingensief diese Aufspaltung des Publikums in verschiedene Gruppen – wie bei Kaprow konnte der Anspruch, alles zu sehen, nicht eingelöst werden. Ebenso erprobte Schlingensief den Einbezug von einfachen, alltäglichen Handlungen, die teilweise von Menschen mit Behinderungen ausgeführt wurden. Im Innern der Drehbühne fand das eigentliche, in seiner Handlung fragmentarische Theaterstück statt, welches die Zuschauer von aussen als Live-Übertragung sehen konnten. Mit Jenny Elvers in der Hauptrolle inszenierte Schlingensief Stationen aus dem Leben von Lady Diana. Im Kern behandelt Kaprow City wie auch andere Werke des Künstlers Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Ereignissen und ihrer Medialität, Augenzeugenschaft und unseren Sehgewohnheiten.
Durch die Rekonstruktion der Installation im musealen Raum findet ein Funktionswechsel statt, der gleichzeitig zur Dekonstruktion wird: Schlingensief schafft im Ausstellungsraum eine hermetisch abgeriegelten Ruine, die nicht mehr betreten werden kann und nebst ihrer neuen skulpturalen Funktion abermals als Projektionsfläche dient. Die kammerartigen Segmente, die der Zuschauer in der ursprünglichen Theaterinszenierung betreten konnte, sind zu Kinoräumen umfunktioniert, in denen Aufnahmen der Berliner Inszenierung von Kaprow City, dem Film Fremdverstümmelung (2007) und persönlichen Familienfilmen zu einem komplexen Verweissystem verwoben sind. Fremdverstümmelung war Teil von Schlingensiefs Bonner Operninszenierung Freax (2007), die er mit behinderten Schauspielern machte. Das Einbinden von Behinderten, aber auch Arbeitslosen oder anderen sozialen Randgruppen gilt als weiteres charakteristisches Element der Arbeitspraxis Schlingensiefs: Solche Protagonisten werden aufgrund ihrer scheinbaren gesellschaftlichen Funktionslosigkeit zu Agenten der Kritik. Die Sicht auf diese Filmfragmente wird oftmals durch mehrschichtig angebrachte transparente Folien erschwert. Schlingensief verweigert dem Zuschauer den direkten Blick und eindeutige Bilder – oftmals existiert das Bild nur in der Überlagerung, der Doppel- und Mehrfachbelichtung. Bereits in seinen frühen Filmen lassen sich diese ästhetischen Prinzipien erkennen: Anhand visueller und/oder akustischer Überlagerungen, die beim Betrachter eine Überforderung auslösen und auf eine Implosion im eigenen Bildaufnahmespeicher zielen, eröffnet sich ein alternativer Modus des Betrachtens, der neue Bildmontagen und Narrationen ermöglicht. Die totale Irritation erfordert auf ganz besondere Weise eine aktive Haltung und Entscheidungsfähigkeit des Betrachters.