Um Tumore zu behandeln, reduzieren gängige Krebstherapien die Sauerstoffzufuhr zum kranken Gewebe. Nun gehen Ärzte des Schweizer Zentrums für Leber- und Pankreaskrankheiten am UniversitätsSpital Zürich (USZ) im Rahmen einer Studie einen völlig neuen Weg: Sie fördern die Sauerstoffzufuhr zum Tumor, statt sie zu verhindern. Ein von einem Nobelpreisträger mitentwickeltes vielversprechendes Medikament kommt dabei erstmals weltweit bei Patienten zum Einsatz.
Tumore in den Bauchorganen gehören zu den häufigsten und bösartigsten Krebserkrankungen: Allein in der Schweiz erkranken pro Jahr rund 6’000 Menschen daran. Hat sich der Krebs noch nicht stark ausgebreitet, kann der Tumor chirurgisch entfernt und der Patient meist geheilt werden. Bei der Mehrheit der Patienten ist dies jedoch nicht möglich, da der Tumor bereits weit fortgeschritten ist. Dann behandeln die Ärzte die Betroffenen mit Chemotherapie oder bestrahlen den Tumor. So können sie zwar das Leben der Patienten verlängern, nehmen damit aber auch Nebenwirkungen in Kauf. Zudem führen gängige Behandlungen dazu, dass die Gefässbildung in den Tumoren gehemmt wird und entsprechend weniger Sauerstoff zum Tumor gelangt. Davon versprach man sich lange eine Abschwächung des Tumorwachstums. Neuere Studien haben aber gezeigt, dass ein Sauerstoffmangel im Tumor dazu führen kann, dass der Tumor aggressiver wird und Ableger in anderen, sauerstoffreichen Geweben bildet.
Neuer Ansatz: Sauerstoffzufuhr fördern statt hemmen
Im Schweizer Zentrum für Leber- und Pankreaskrankheiten des USZ arbeiten Onkologen, Gastroenterologen, Hepatologen und Viszeralchirurgen eng miteinander zusammen. Prof. Pierre-Alain Clavien, Direktor der Klinik für Viszeral- und Transplantationschirurgie und Dr. Përparim Limani vom Zentrum für Leber- und Pankreaskrankheiten am USZ entwickelten in enger Zusammenarbeit mit Prof. Roger Stupp, Direktor der Klinik für Onkologie, und seinem Team ein neues Therapiekonzept, welches nun in einer vom Zentrum initiierten Studie geprüft wird. Dieses Konzept verkörpert genau das Gegenteil des landläufigen Therapieansatzes: Statt die Sauerstoffversorgung im Tumor durch die gängigen Behandlungen zu verringern, wird die Sauerstoffaufnahme im kranken Gewebe bewusst begünstigt. Dazu setzen die Ärzte das Molekül Inositol Trispyrophosphat (ITPP) ein, das die vom Krebs veränderten Blutgefässe im Tumor normalisieren soll. Damit erhoffen sie sich, die Wirksamkeit der Chemotherapie oder der Bestrahlung zu erhöhen und krebsfördernde Wege zu hemmen.
Medikament von Chemie-Nobelpreisträger, Biologe und Ärzten entwickelt
Swissmedic, die schweizerische Zulassungsbehörde für Heilmittel und die Kantonale Ethikkommission Zürich haben ITPP Mitte Januar 2015 zugelassen. Das Studienmedikament wurde von einer Forschungsgruppe des Nobelpreisträger Prof. Jean-Marie Lehn (Chemie) an der Universität Strassburg entdeckt und in enger Zusammenarbeit mit dem Biologen Prof. Claude Nicolau aus Boston im Tiermodell entwickelt. Dr. Përparim Limani und Prof. Pierre-Alain Clavien haben das Medikament weiter im Tiermodell erforscht. «Die eindrücklichsten anti-tumoralen Effekte wurden bei einer Kombination des Medikaments mit einer konventionellen Standard-Chemotherapie beobachtet», sagt Prof. Pierre-Alain Clavien. Auch bei Verabreichung des Medikaments ohne Kombination mit anderen Therapien sei die Lebensdauer gestiegen und die Zahl und Grösse der Tumoren habe sich reduziert.
Erstmaliger Einsatz bei Patienten
Jetzt wird das vielversprechende Krebsmedikament im Rahmen einer klinischen Studie bei 70 Patienten angewendet. Dabei erhalten Patienten mit Leber-, Bauchspeicheldrüsen- oder Gallengangskrebs sowie Patienten mit Metastasen von Dickdarmkrebs das Studienmedikament. Anschliessend unterziehen sie sich einer individuell angepassten Chemotherapie. Die Forschenden interessiert, ob bei den Patienten, die das Studienmedikament eingenommen haben, bessere Ergebnisse resultieren. Ein Augenmerk richtet die experimentelle Studie aber auch auf die weitere Prüfung der Verträglichkeit und der Sicherheit des Medikaments. Die ersten Erkenntnisse erhoffen sich die Ärzte in spätestens einem Jahr. Gespannt auf die Resultate sind auch Nobelpreisträger Prof. Jean-Marie Lehn und Prof. Claude Nicolau: «Für uns wäre es eine grosse Genugtuung zu sehen, dass unsere langjährige Forschung Früchte trägt und den Krebspatienten zu Gute kommt».
(idw) / Bild: idw