Wie der Massentourismus Europas Metropolen bedroht

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Stadt und Schiff auf Kollisionskurs – Kreuzfahrtriesen wie die MSC «Musica» setzen in Venedig täglich Tausende von Touristen an Land. (Bild: Stefano Rellandini / Reuters)

Stadt und Schiff auf Kollisionskurs – Kreuzfahrtriesen wie die MSC «Musica» setzen in Venedig täglich Tausende von Touristen an Land. (Bild: Stefano Rellandini / Reuters)

Die Disneylandisierung unserer Städte. Für 2030 werden 1,8 Milliarden Touristenankünfte weltweit erwartet. Manche europäische Städte sind dem Ansturm nicht länger gewachsen. Traditionelle Soziotope zerfallen. Bürgermeister schlagen Alarm.

Eine Paywall für die Stadt

Amsterdam ist nicht die einzige europäische Metropole, die mit Touristen zu kämpfen hat. Auch Barcelona ächzt unter der Last des Fremdenverkehrs. In La Barceloneta protestierten im Sommer Anrainer gegen die Auswüchse des «Sauftourismus». Die Bewohner haben genug von betrunkenen Touristen, die gegen Häuserwände pinkeln und nachts Radau machen. Auch in Hongkong gedeiht ein Feindbild: Luxustouristen vom chinesischen Festland. Im Februar des letzten Jahres kam es – noch vor den politischen Demonstrationen – zu Protesten gegen neureiche Shopping-Touristen vom Festland («Heuschrecken»).

Hilfe, die Gucci-Touristen kommen! Doch die Zustände könnten sich bald verschlimmern. Die World Tourism Organisation erwartet bis zum Jahr 2030 1,8 Milliarden Touristenankünfte, fast doppelt so viel wie 2010. Dann werden noch mehr feierwütige Touristen nach Amsterdam und Barcelona reisen. Das Stadtbild europäischer Metropolen ist schon jetzt geprägt von Touristen, an lokalen Hotspots und Sehenswürdigkeiten wie dem Louvre oder dem Eiffelturm sieht man kaum noch Einheimische. «Der Tourismus ist in europäischen Städten konzentrierter, weil sie über einen historischen Kern und andere Siedlungsstrukturen verfügen», erklärt der Städteforscher Costas Spirou von der Georgia College & State University.

Die Sehenswürdigkeiten sind auf engstem Raum geballt – und ziehen Touristen an. In zahlreiche Städten, von Amsterdam über Prag bis Zürich, steigen laut einem Gutachten der Unternehmensberatung PwC die Übernachtungszahlen. – Die «Hotelisierung» manifestiert sich nicht nur in neuen Hotels, die an jeder Ecke ihre Pforten öffnen. Durch Zimmervermittlungsagenturen wie Airbnb werden auch Privatwohnungen zu Unterkünften – sie bringen Touristen direkt in die Nachbarschaft. Das Reisen verändert sich. Es wird spontaner, kurzweiliger, aber auch oberflächlicher. Heute jettet man einfach übers Wochenende in eine Stadt und quartiert sich bei einem Local ein. «Eine der negativen Konsequenzen ist der Angriff auf die kulturelle Authentizität», befürchtet der Soziologe Spirou.

Seit 1987 ist Venedig Unesco-Weltkulturerbe, trotzdem verlassen jedes Jahr etwa 1000 Venezianer die «schönste Stadt der Welt». Auf die 265 000 Einwohner kommen jährlich 25 Millionen Besucher. Das sind im Durchschnitt 68 000 Touristen pro Tag, in der Hochsaison sind es deutlich mehr, schätzungsweise 150 000. Wenn auf fast jeden Bewohner ein Tourist kommt, dürfte die Balance sicher nicht mehr gewahrt sein.

Die italienische Kulturstaatssekretärin Ilaria Borletti erwog eine Eintrittsgebühr für die Lagunenstadt. «Venedig stirbt einen langsamen Tod des Tourismus, erwürgt von Sommertouristen, die essen und rennen und wenig bis gar nichts in der Stadt lassen», sagte sie. Von den 25 Millionen Besuchern übernachtet nur ein Drittel im Hotel, der Rest sind Tagesbesucher. Borlettis Vorschlag stiess auf ein geteiltes Echo. Die Stadt will die Touristen nicht vergraulen, der Fremdenverkehr ist die Haupteinnahmequelle, neun Milliarden Euro werden damit jährlich umgesetzt. Der Gouverneur der Region Veneto, Luca Zaia, sagte: «Wir müssen allen sozialen Klassen Zugang zu Venedig gewähren.» Das klingt einleuchtend. Doch die Botschaft impliziert, dass das eben längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Die Stadt London verlangt für das Feuerwerk an der Themse an Silvester Eintrittsgeld. Die spektakuläre Show vor historischer Kulisse gibt es nur für bezahlendes Publikum. Wer nicht zahlt, schaut nur von ferne.

Damit einher geht auch eine Privatisierung des öffentlichen Raums. In London kann man schon kaum mehr am Themseufer flanieren, ohne privates Grundstück zu betreten. Das beeinträchtigt nicht zuletzt die Panoramafreiheit: Fotografieren ist nur erlaubt, wenn der Eigentümer zustimmt. Die 247 Millionen Euro teure Garden Bridge, die über die Themse gebaut wird und eine Touristenattraktion werden soll, ist an zwölf Tagen im Jahr für die Öffentlichkeit gesperrt. Dann können Sponsoren wie Glencore Veranstaltungen im grossen Stil feiern. «Man geht dann von der Tate Modern, gesponsert von BP, über die Glencore-Brücke zum Royal Opera House, gefördert von Rio Tinto», kritisiert der Greenpeace-Mitarbeiter Charlie Kronick. Der öffentliche Raum wird zur Sponsorenzone.

Die City als VIP-Bereich

Simon Kuper, Journalist der «Financial Times», hat im Artikel «How tourists took over the world» die These formuliert, dass Tourismus ein Privileg der Elite werden könnte, so wie 1950, als nur 25 Millionen Menschen ins Ausland reisten. Paywalls, wie sie in Venedig erwogen werden, würden europäische Städte in eine Art «gated communities» für Superreiche verwandeln. Die City als VIP-Bereich, reserviert für zahlende Gäste.

Damit ist auch eine soziale Umwandlung verbunden, die längst schon stattfindet. Viele Familien aus der Mittelschicht können sich eine Wohnung in den Stadtgrenzen von Paris oder London kaum noch leisten und ziehen in die Randbezirke. Die Mieten steigen rasant, Immobilien werden zu Spekulationsobjekten. In seinem 2010 erschienenen Roman «La Carte et le Territoire» entwirft Michel Houellebecq das Szenario eines Frankreich im Jahre 2016, das sich deindustrialisiert und in ein touristisches Paradies für eine zahlungskräftige Klientel aus China, Russland und Indien verwandelt hat. Paris, ein Disneyland. Es ist eine Dystopie. Doch Houellebecq, der düstere Visionär, hat schon viele Male recht behalten. Quelle: NZZ[content_block id=29782 slug=ena-banner]

Dieser Beitrag wurde am von unter ausflugs/ & reisetipps, weltweit veröffentlicht.

Über Leonard Wüst

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