«Ich bin ein französischer Komponist, Dirigent und Schriftsteller.» So hätte Pierre Boulez sehr wahrscheinlich die Frage nach seinem künstlerischen Tun und Wirken beantwortet – genau auf den Punkt gebracht, ohne Schnörkel und ohne jegliche Form der inszenierten Selbstdarstellung. So haben die meisten von uns «Jüngern» ihn erlebt, gefühlt und gesehen. So wurde er für uns zum grossen Vorbild, ja beinahe schon zum «Halbgott». Wir bewunderten sein Tun, seine Ziele, für die er unbeirrbar einstand, egal ob es sich um kleinere oder grössere Revolutionen handelte. In der vergangenen Nacht hat er uns verlassen. Wir trauern um einen grossen Menschen und Künstler, der dieses Festival unendlich bereichert und geprägt hat.
Mein allererster Eindruck von Pierre Boulez waren seine höchst innovativen Programm- und Konzertformate, als er in den Jahren 1971 bis 1977 das New York Philharmonic leitete. Da standen Bach, Schubert, Liszt, Webern, Berg, Strawinsky und eigene Kompositionen neben- und miteinander in Konzertprogrammen, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Die scheinbare Buntheit deckte Bezüge auf und motivierte zu neuen Hörerfahrungen, beispielsweise im Format eines «Rug Concert», das heute noch seinesgleichen sucht und den Blick weit in die Zukunft der modernen Konzertvermittlung richtete.
Ja, Pierre Boulez war ein Revolutionär und unerbittlicher Kämpfer, wenn es um seine Ideale und um die Zukunft der Institution «Kunst und Kultur» ging. Sein Text Schoenberg est mort über den Begründer der Zwölftonmusik ist scharfsinnig wie auch erbarmungslos. Dem Opernbetrieb unterstellte er Erstarrung, betrachtete die Führung der Opernhäuser als antiquiert und hätte diese am liebsten in Schutt und Asche gelegt. Dann realisierte er 1976 in Bayreuth mit Patrice Chéreau die wohl legendärste aller Ring-Inszenierungen. Wieder gemeinsam mit ihm entwarf er 1989 ein erstes Konzept für eine «Salle Modulable» für die Opéra Bastille in Paris: einen innovativen, zukunftsweisenden Raum für das Musiktheater, der den Zuschauer- und den Bühnenbereich über frei konfigurierbare Formen miteinander verbinden sollte. Die Realisierung kam damals aus finanziellen Gründen nicht zustande.
In bleibender Erinnerung ist mir der Moment, als mir Pierre Boulez im Januar 2006 in seinem Haus in Baden-Baden die mehrseitige Studie der «Salle Modulable» übergab und mich motivierte, dieses Projekt in Luzern umzusetzen. Diese Motivation hält bis heute an!
Sein Geburtsland Frankreich und vor allem das Zentrum Paris sollten aber zu Pierre Boulez’ wohl bedeutendster Wirkungsstätte werden. Staatspräsident Georges Pompidou höchstpersönlich lud ihn 1969 ein, das IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) zu gründen, das zusammen mit dem Ensemble intercontemporain und der Cité de la musique zum eigentlichen Zentrum seines Wirkens wurde. Im kleinen, spartanisch eingerichteten Büro des IRCAM fand im Dezember 2000 mein erstes Gespräch mit Pierre Boulez zur Gründung der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY statt. Seine Reaktion auf mein Ansinnen war klar und einfach wie immer: «So etwas habe ich mir schon immer gewünscht, kommen Sie im Januar nach Baden-Baden». Und die Pläne entwickelten sich in Windeseile: Schon 2003 fand im Sommer eine sogenannte «Preview» statt; ein Jahr später stand die LUCERNE FESTIVAL ACADEMY mit 120 Studenten aus der ganzen Welt auf festen Beinen.
Wie für seinen eigenen Lehrer Olivier Messiaen schien auch für Pierre Boulez fortan nichts wichtiger zu sein, als im Rahmen der Academy sein immenses Wissen, seine lebendige Erfahrung, seine grossen Ideale an junge, aufstrebende Menschen weiterzugeben. So pilgerten die interessierten Studenten in Scharen nach Luzern und sogen den Boulez-Geist begeistert auf.
Das bis dahin mehrheitlich auf das Veranstalten von herausragenden Konzerterlebnissen fokussierte LUCERNE FESTIVAL erhielt so eine grossartige Institution für Orchestererziehung, Kammermusik, Dirigierunterricht und Komponieren mit dem Schwerpunkt auf der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.
Unvergessen bleiben zahlreiche Proben und Konzerte mit dem LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra und den Academy-Kammerensembles, Unterrichtsstunden mit jungen, vielversprechenden Dirigenten und Komponisten. Einzigartige Programme mit Pierre Boulez’ eigenen Werken – von Répons über Le Marteau sans maître, Éclat/Multiples und die Notations – bis hin zu Gruppen von Karlheinz Stockhausen und zahlreichen Uraufführungen kommen mir in den Sinn. Unvergesslich die exemplarischen Aufführungen von Gustav Mahlers Sechster Sinfonie, Alban Bergs Drei Orchesterstücken, Béla Bartóks Der wunderbare Mandarin und Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps.
Eine besondere Sternstunde mit Pierre Boulez erlebte ich am 2. Oktober 2011 in der Londoner Royal Festival Hall mit der Aufführung seines legendären Mallarmé-Zyklus Pli selon pli mit Barbara Hannigan als Solistin und einem Ensemble aus Mitgliedern des Ensemble intercontemporain Paris und der LUCERNE FESTIVAL ACADEMY: Eindrücklich kam hier die Personalunion des grossen Komponisten und Dirigenten zur Geltung.
Bemerkenswert war die freundschaftliche Verbundenheit und Loyalität, die Pierre Boulez mit zahlreichen Institutionen verband. Und auch hier kannte er keine Kompromisse, opportunes Verhalten war ihm fremd. Er stand fest zu Wolfgang Wagner in Bayreuth, als dieser von den Medien und der Politik bereits fallengelassen wurde. Er vermittelte im Sommer 2004 aufopfernd zwischen den Parteien im kontroversen Parsifal von Christoph Schlingensief und ermöglichte somit eine der interessantesten Bayreuther Inszenierungen der letzten Jahre. Als Claudio Abbado 2007 seine Konzerte mit dem LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA in der New Yorker Carnegie Hall aus gesundheitlichen Gründen absagen musste, sprang Pierre Boulez innerhalb von vier Tagen ein und begeisterte mit einer umwerfenden Interpretation von Mahlers Dritter Sinfonie. All das spricht für einen der grossartigsten Künstler und Menschen unserer Zeit, der seine eigene Persönlichkeit immer in den Dienst des Höheren stellte – für den das, was er tat, stets selbstverständlich war.
Historisch betrachtet, verdankt Luzern die Bekanntschaft mit Pierre Boulez seinem grössten Freund und Förderer Paul Sacher. Als Mitglied der damaligen Programmkommission empfahl Sacher bereits in den 1960er Jahren Boulez als Dirigenten. In einem Gesprächskonzert stellte er den Komponisten 1983 dem Luzerner Publikum vor, nachdem Boulez erstmals 1975 mit dem New York Philharmonic in zwei Konzerten hier gastiert hatte.
Lucerne Festival dankt Pierre Boulez für seinen unschätzbaren Beitrag zur Weiterentwicklung eines Festivals, in dessen Herzen das Engagement für die Musikergeneration von morgen und die Musik unserer Zeit eine bestimmende Rolle spielt und spielen wird.
Wenn wir es mit den Worten seines von ihm so verehrten Dichterfreundes René Char ausdrücken, dann hat uns Pierre Boulez viele Träume und viel Unausgesprochenes für die Zukunft hinterlassen – Träume, die es weiterzuträumen und zu realisieren gilt:
«Un poète doit laisser des traces de son passage, non des preuves. Seules les traces font rêver.» René Char[content_block id=29782 slug=ena-banner]