Watan und seine Zwillingsschwester kamen als Frühgeburten auf die Welt. Nach wenigen Monaten fiel den Eltern auf, dass ihr kleiner Sohn sich nicht so rasch entwickelt wie seine Schwester Sham. Das Leben der jungen Familie aus Bethlehem veränderte sich auf einen Schlag. Eine Reportage aus dem Caritas Baby Hospital.
Watan ist noch keine drei Jahre alt, aber er liebt es bereits zu flirten. Mit seinem schelmischen Lächeln und seinem Augenaufschlag bezaubert er alle. Damit versucht er wettzumachen, was der Körper ihm versagt. Der kleine Junge und seine Zwillingsschwester kamen in einem Krankenhaus in Hebron bereits im siebten Schwangerschaftsmonat zur Welt. Er wog 1700 Gramm, sie nur 700. Bange Tage für die Eltern, aber die Kinder entwickelten sich auf den ersten Blick normal. Nur mit dem Sitzen wollte es bei Watan einfach nicht klappen. Er fand kein Gleichgewicht, während seine Zwillingsschwester damit keine Probleme hatte. Als der Kleine eines Abends auch noch anfing unkontrolliert zu zucken, ahnten die Eltern, dass gesundheitlich etwas mit ihrem Sohn nicht stimmt.
Die Mutter der Zwillinge ist eine gebürtige Jordanierin und ging mit Watan zum Arzt, als sie auf Heimatbesuch war. Der Arzt vermutete Epilepsie und eine Hirnschädigung, die sich auf den Bewegungsapparat auswirke. Zu diesem Zeitpunkt verstanden die Eltern nicht, was diese Diagnose bedeutete, sie waren verunsichert und bang. «Ich habe in diesen Tagen so viel geweint», erinnert sich Azhar, die 27-Jährige Mutter der Zwillinge. «Der Arzt hat uns versichert, dass sich die Epilepsie medikamentös behandeln lasse, sich sogar weitgehend lege. Aber er sagte uns auch, dass die Epilepsie nicht Watans grösstes Problem sei».
Der Erstverdacht bestätigt sich
Die epileptischen Anfälle hatten mit der richtigen medikamentösen Einstellung tatsächlich aufgehört. Doch der Verdacht einer Zerebralparese, einer Hirnschädigung also, hatte sich leider ebenfalls bestätigt. Watan kann seine Beine nicht richtig bewegen, weil seine Nerven und Muskeln nicht auf die Befehle des Gehirns reagieren. Die sogenannte Diplegie ist unheilbar, aber mit frühkindlicher Physiotherapie lässt sich die motorische Entwicklung stark verbessern. Umgehend suchten die Eltern nach einer Einrichtung, wo diese Art von Physiotherapie angeboten wird – und landeten im Caritas Baby Hospital.
Das Spital in Bethlehem ist eine der ganz wenigen Einrichtungen im Westjordanland, die sich auf diese frühkindliche Physiotherapie spezialisiert hat. Da viele der motorischen Auffälligkeiten bei kleinen Kindern mit Schäden des Gehirns oder der Nerven zu tun haben, arbeitet die physiotherapeutische Abteilung sehr eng mit den Fachärzten der Kinder-Neurologie im Krankenhaus zusammen. So lässt sich eine optimale Betreuung gewährleisten. In Palästina gibt es viele Kinder mit neuropädiatrischen Problemen, daher legt das Caritas Baby Hospital einen Schwerpunkt auf Neuropädiatrie und wird das Angebot in den kommenden Jahren weiter ausbauen.
Ein dreifacher Glücksfall
Für Watans Familie stellte sich das Caritas Baby Hospital als dreifacher Glücksfall heraus. Erstens liegt es nicht weit von ihrer Wohnung in Bethlehem entfernt, zweitens ist die Therapie top und drittens liebt Watan das Physiotherapie-Team. Das ist für die anstrengende Arbeit von zwei- bis drei Mal in der Woche sehr wichtig. Heute soll er über einen Teppich aus verschiedenen Materialien gehen. Mal sind es Steine, mal Gras, mal PVC. Watan kämpft um jeden Schritt. Rechter Fuss vor den linken Fuss setzen und dabei ja nicht auf die Zehenspitzen. Der kurze Weg bereitet ihm grosse Mühe – aber Watan wird von Vater Shaban, Mutter
Azhar und dem Therapeuten angefeuert. Umso stolzer ist er, als er zum Schluss sogar noch ein paar Stufen einer hölzernen Treppe erklimmt. Er schaut sich nach Beifall um und reckt den Kopf zufrieden in die Höhe.
Die Eltern wissen, dass Watan geistig wach ist, frech und schlagfertig. Sie hoffen, dass er trotz seiner körperlichen Behinderung eine normale Schule besuchen kann. «Aus diesem Grund machen wir jetzt möglichst viel Physiotherapie mit ihm, auch daheim wird fleissig geübt». Azhar und Shaban möchten alles Nötige machen, nichts unversucht lassen. «Watan soll uns später einmal nicht vorwerfen können, wir hätten nicht genug für ihn getan». Um all die Termine bei Ärzten oder der Physiotherapie unter einen Hut zu bringen, hat die Mutter sogar den Führerschein gemacht.
Eine grosse Hilfe ist auch, dass die erweiterte Familie ihres Ehemannes im selben Haus wohnt und sich alle rührend um die Zwillinge kümmern. Mal kommt die Tante aus dem ersten Stock, dann bringt Azhar die Kinder zur Grossmutter, dann wieder klingelt die Tante aus dem dritten Stock. Das ist dann auch für Watans Schwester Sham schön, die manchmal zu kurz kommt und eifersüchtelt. «Wir bemühen uns sehr, den Zwillingen gleichermassen gerecht zu werden, aber es ist eine riesige Herausforderung», gestehen Azhar und Shaban unisono.
Mehr als 100 Stufen
Die Wohnung, in der die Familie lebt, liegt in Al-Azzeh, einem Stadtteil von Bethlehem. Oft fragen sich die Eltern, wie lange sie noch dort bleiben können. Sie haben sich die Zimmer ansprechend eingerichtet. An der Wendeltreppe hängt eine Schaukel, darunter befindet sich die Spielecke der Kinder. Die Mutter hat von der Küche aus alles im Blick. Auf dem Balkon steht im Sommer ein kleines Planschbecken, das beide Kinder lieben. Die Wohnung ist klein, aber heimelig. Der Hacken: sie liegt im fünften Stock und einen Aufzug gibt es nicht. Watans Schwester Sham kennt die Gefahren im Treppenhaus in- und auswendig und kann die mehr als 100 Stufen selbständig bewältigen, während ihre Mutter Watan jeweils tragen muss.
Azhar und Shaban haben schon überlegt, die Wohnungen mit anderen Familienmitgliedern zu tauschen, aber das geht von den Platzverhältnissen her nicht. Die Familie sucht also nach einer neuen Bleibe, am liebsten in der Nähe der Verwandtschaft. Aber grosse Hoffnung haben sie nicht in absehbarer Zeit eine bezahlbare Wohnung zu finden. Denn als Hochzeitsfotograf verdient Watans Vater nicht ausserordentlich viel. Sie kommen über die Runden, aber viel bleibt nicht übrig. Eine Krankenversicherung besitzt die Familie nicht. Deswegen klärt auch der Sozialdienst des Caritas Baby Hospitals mit der Familie ab, wie sie ihnen bei den Kosten für die Behandlung entgegenkommen können. Denn für die intensiven Therapiestunden häuft sich am Ende des Monats trotz niedriger Tarife einiges an.
Ein ganz besonderer Berufswunsch
Azhar hilft ihrem Mann häufig bei den Hochzeitsfotos, besonders wenn es um die Bilder der Braut geht. «Da hat ein Mann nichts zu suchen», erklärt die 27-Jährige. Die beiden sind beruflich und privat ein eingespieltes Team. Gemeinsam tragen sie das Schicksal, dass Watan anders ist und viel Zeit und Unterstützung braucht. Es ist in der Region nicht alltäglich, dass sich auch der Vater so aktiv in der Betreuung eines behinderten Kindes einbringt, und sich im Haushalt beteiligt. Oft ziehen sich die Ehemänner in solchen Situationen zurück und überlassen der Mutter die gesamte Betreuung. Um diesem Umstand etwas entgegenzuwirken, legt das Caritas Baby Hospital in der Behandlung grossen Wert darauf, dass Vater und Mutter eingebunden sind, beide zur Gesundheit des Kindes beitragen und eine möglichst gleichberechtigte Aufgabenverteilung stattfindet. Watans Eltern sind in diesem Bereich wirklich vorbildlich.
«Wie alle Mütter will ich nur das Beste für mein Kind. Das heisst nicht, dass er mal Arzt werden soll oder so. Ich hoffe einfach, dass er für sich selbst sorgen kann». Die junge Frau kämpft mit den Tränen, als sie von ihren Sorgen um Watans Zukunft spricht. Um sich abzulenken, wendet sie sich an die anderen Kinder auf der Abteilung und fragt: «Was wollt ihr später mal werden?» Watan strahlt sie auf seine unvergleichlich charmante Art an, dreht keck den Kopf und erklärt «Bräutigam». Die Mutter streicht ihm liebevoll über den Kopf und übersetzt «Hochzeitsfotograf». Sie atmet tief ein, alle Sorgen und aller Druck scheinen für einen Moment wie weggeblasen.
Jahresrückblick 2017Finanziert und betrieben wird das Caritas Baby Hospital im Westjordanland von der Kinderhilfe Bethlehem in Luzern. Das Behandlungskonzept bindet die Mütter eng in den Heilungsprozess ihrer Kinder mit ein und das Spital verfügt über einen gut ausgebauten Sozialdienst. 2016 wurden mehr als 46’000 Kinder und Babys stationär oder ambulant betreut. Alle Kinder erhalten Hilfe, unabhängig von Herkunft und Religion. Im Fortbildungszentrum des Spitals werden Kurse für Mitarbeitende und Externe angeboten. Nur dank Spenden kann das Spital seine Aufgaben erfüllen und Kinderleben retten. Informieren Sie sich über die aktuelle Situation in Bethlehem auf unserer Homepage
www.kinderhilfe-bethlehem.ch
Spenden:
Kinderhilfe Bethlehem
Spendenkonto PK 60-20004-7
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