Luzerner Theater, Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann, besucht von Rolf Winz

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Der Sandmann Szenenfoto Ingo Hoehn

Produktionsteam

Inszenierung: Nicolas Charaux Bühne und Kostüme: Pia Greven Licht: Clemens Gorzella Musik: David Lipp Dramaturgie: Nikolai Ulbricht

Rezension:

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

Das Unheimliche, Schauerliche leitet im Kunstmärchen «Der Sandmann» von E.T.A. Hoffmann die Handlung an und verführt in die Unterwelt der menschlichen Ängste, Dämonen, Traumgestalten und auch der Erotik. Diese dunklen Traumwelten aus der Zeit der Schwarzen Romantik auf die Bühne zu bringen, ist eine Herausforderung der besonderen Art und sie ist dem Regisseur Nicolas Charaux bei der Inszenierung am Luzerner Theater ausgezeichnet geglückt.

Das schwarze Märchen von Hoffmann

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

Der Sandmann erzählt das Märchen von Nathanael, der sich seit seiner Kindheit vom Sandmann verfolgt fühlt und fest daran glaubt, was ihm seine Mutter erzählt hat, nämlich dass dieser den Kindern im Schlaf ihre Augen raubt. Auch als Erwachsener bleibt er in diesen Ängsten gefangen, sie durchströmen seinen Alltag und fliessen auch in seine Liebesbeziehungen ein. Mit dem Erscheinen des Händlers Coppola bekommt der Sandmann wieder eine Gestalt und Nathanael versinkt ganz in seine düsteren Traumwelten. Erst die seelenlose mechanische Puppe Olimpia lässt ihn wieder in die Realität auftauchen. Doch dann raubt der Sandmann auch dieser die Augen.

Die unheimliche Welt des Unterbewussten

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

In der Aufführung des Luzerner Theaters hängt am Anfang ein rosafarbenes Stoffgebilde im Raum über der Bühne, das wie ein Mund oder auch ein Auge sich öffnet und wieder schliesst. Es bewegt sich langsam, stülpt sich aus und wird wieder flach, eine grosse Qualle vielleicht, die endlich nach oben entschwebt. Dann wird die unheimliche Familie von Nathanael sichtbar, Vater, Mutter und Nathanael selber, an einem rohen Holztisch sitzend. Die Schauspieler tragen klobig gehauene Masken und starren mit ihren grossen, glasigen Kunstaugen gelangweilt ins Leere. Einziges Geräusch ist das Ticken einer Uhr, das während des Stückes immer wieder ertönen wird und mal schneller, mal langsamer das Verrinnen des Lebens antönt. Dann ein Knall von einem Knochen, der vom Himmel auf den Boden kracht, ein Überbleibsel einer Mahlzeit vielleicht vom grossen Mund, der nach oben entschwunden ist. Zwei riesige Hasenpuppen lehnen links und rechts an einer Wand. Nichts passiert und lange kann sich der Zuschauer in diese verschrobenen Figuren vertiefen und die verschobene Realität dieser schwarzen Märchenwelt erkunden. Dann steigt die vierte Gestalt mit knallenden Tritten über eine Treppe aus der Unterwelt auf. Erst nach zwanzig Minuten ertönen die ersten gesprochenen Sätze, künstlich verzerrt, mehrfach wiederholt: «Nathanael?» und «Clara, wo bist du?».

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

Dann ein abrupter Schnitt. Die Alptraumgestalten der unheimlichen Familie verschwinden und es erscheinen ihre Spieler in normaler Kleidung: Christian Baus, Lukas Darnstädt, Wiebke Kayser, Mira Rojzman und Julian-Nico Tzschentke. Sie tragen den stark gekürzten Originaltext von E.T.A. Hoffmanns Erzählung vor, ohne Schauspiel und fast ohne Emotionen. Was vorher dem Zuschauer in einer visuell überhöhten und stark gezeichneten Bühnenwelt, untermalt mit seltsamen Tönen und dräuender Musik, gezeigt wurde, muss sich nun im Kopf des Zuhörers abspielen. Gerade das ist aber das Wesen einer Erzählung, die ja auch mit geschlossenen Augen gehört werden kann.

Aussensicht und Innensicht

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

Dies sind denn auch die zwei Ebenen, die sich in den Bildern, den Masken und Kostümen und der Musik ausdrücken. Das eine ist die Sicht von Nathanael auf seine unheimliche Märchenwelt mit den bedrängenden Ängsten, der ziemlich verschobenen Realität und den aus dem Unterbewusstsein steigenden verzerrten Gestalten. Das andere ist die heutige Welt, in der eine Geschichte erzählt wird aus einer neutralen Beobachterposition. Zweimal noch wechseln diese Welten ab in der Aufführung im Luzerner Theater. Als zum Schluss die Maskenfiguren ein drittes Mal erscheinen, überbordet der grausige Spass. Die Eingeweide der Hasen werden gefressen und als Nathanael sich weigert, an der Orgie teilzuhaben, wird er mit einem Cricketschläger brutal verprügelt. Dann senkt sich eine schwarze Glocke des Vergessens über den Tatort der Fressorgie und Olimpia spricht mit schmeichelnder Stimme aus einem seltsamen schwarzen Kasten zu Nathanael. Es könnte ein iPad sein, es könnte aber auch der mysteriöse schwarze Monolith aus Stanley Kubrick’s Film «2001 – Odyssee im Weltraum» sein, der die menschliche Evolution beeinflussen soll.

Geglücktes Wagnis

Szenenfoto Foto Ingo Hoehn

Die Inszenierung von Nicolas Charaux ist in mehrfacher Hinsicht sehr zu loben. Eine Erzählung kann auf der Bühne nicht einfach nacherzählt werden. Die zwei Ebenen mit der Innen- und der Aussensicht entsprechen der Märchenerzählung von E.T.A. Hoffmann in der besten Weise. Das Unheimliche wird mit der Verschiebung von vertrauten Szenen und Gestalten ins Irreale eindrücklich dargestellt. Die Bildelemente, die Masken und Kostüme, aber auch die Musik und die verzerrten Stimmen werden gekonnt und in eindrücklicher Weise eingesetzt. Die Inszenierung macht viele Anspielungen auf andere Stücke und Filme.  Sie ermöglichen es dem Zuschauer mit ganz subjektiven Assoziationen auf seiner individuellen Ebene die Erzählung mit eigenen Leben zu füllen. Die anderthalb Stunden an diesem Abend werden deshalb nie langweilig, schliesslich könnte es ja die eigene Familie sein, die einem da gezeigt wird

Kleine Fotodiashow der Produktion von Ingo Hoehn:

fotogalerien.wordpress.com/2018/12/13/luzerner-theater-der-sandmann-von-e-t-a-hoffmann/

Kurzer Trailer der Produktion:

vimeo.com/305513867

Text: Rolf Winz

Fotos:  Ingo Hoehn www.luzernertheater.ch

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