Luzerner Sinfonieorchester, Die Fünfte von Schostakowitsch, KKL Luzern, 15. Mai 2019, besucht von Léonard Wüst

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Seong-Jin Cho, Solist am Klavier Foto Harald Hoffmann

Besetzung und Programm:

Frédéric Chopin (1810 – 1849)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21

Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975)
Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Rezension:

Chopins zweites Klavierkonzert in f-Moll ist eigentlich sein erstes. Es ist 1830 entstanden, kurze Zeit vor dem e-Moll-Konzert. Da Chopin das f-Moll-Konzert aber als zweites veröffentlichte, trägt es diese Zahl. Chopin war damals 20 Jahre alt und bereits ein überragender Pianist. Er hat die Konzerte in erster Linie für sich selbst komponiert. Das Klavier steht ganz und gar im Zentrum, das Orchester begleitet dezent und dient vor allem dazu, Farben und Spannungsbögen zu unterstreichen – anders als etwa in den Konzerten von Mozart oder Beethoven, in denen Solist und Orchester gleichberechtigte Partner sind.

Ungewöhnlich lange, nur orchestrale, Konzerteröffnung

Michael Sanderling Foto Marco Borggreve

Das Intro durch das Orchester dauert ungewöhnlich lange zweieinhalb Minuten, bevor der Solist ins Geschehen eingreift. Dann sind sie aber unvermittelt da, die Staccato der hingeknallten Harmonien, die fulminanten Läufe, die perlenden Tonkaskaden und man sieht vor seinem geistigen Auge den jungen Polen Frédéric Chopin in einem Pariser Salon, inmitten der Honoratioren der Stadt als umjubelter Unterhalter, der neue Liebling der Hauptstädter. Aber zurück nach Luzern und damit zu Seong-Jin Cho, der alles richtig macht, ohne aber das Publikum im Herzen berühren zu können. Etwas zu sehr auf die Technik fokussiert, unterläuft er die Gefühle

Der Solist findet etwas spät in den Dialog mit dem Komponisten

Dabei ist in diesem Konzert alles drin, was man landläufig unter „romantischer Klaviermusik“ versteht: viel Poesie und eine Fülle unterschiedlicher Stimmungen, Zartes und Wildes, wunderbare Melodien, technische Finessen und ein großer Reichtum an Harmonien und Farben. Der Solist bemerkt, dass er relativ weit weg ist und plötzlich ist es da, das Zwiegespräch zwischen Pianist und Komponist, was auch das Publikum spürt. Da ist mehr Gefühl in den sanften Tönen, eine Leichtigkeit in den Phrasierungen, Chopin geht ihm jetzt leicht von der Hand, da versinkt er drin und geht gleichzeitig darin auf. Nun ist auch die Spannung da im Publikum, das jetzt gebannter Haltung Richtung Bühne blickt und sich nun einnehmen lässt.

Zum Werk aus Sicht diverser Pianisten

Seong-Jin Cho, Solist am Klavier Foto Harald Hoffmann

Es ist nicht die Virtuosität, die das zweite Klavierkonzert ausmacht – es ist die Emotion dahinter. Die richtige Interpretation zu finden, ist nicht einfach. Chopin schrieb seine Werke sehr schnell und vielleicht an manchen Stellen etwas ungenau. Vom tragischen, pessimistischen und dennoch tröstlich klingenden Thema des ersten Satzes über den emotionsgeladenen, poetischen zweiten Satz bis hin zur temperamentvollen polnischen Folklore mit dem Geist der aufblühenden nationalen Musik: Chopin legt in seinem zweiten Klavierkonzert eine farbenreiche Gefühlspalette offen. Punktangaben über den Noten, manche Pedaleinsätze oder die unterschiedlichen Phrasierungsbögen sind in Chopins Partituren nicht eindeutig definierbar.

Es benötigt tiefes Einfühlungsvermögen

Erst ein tiefes Verständnis für Chopins Denken und Fühlen lässt die vom Komponisten gewünschte Interpretation zu. Und die kann zweideutig sein – dennoch immer richtig. Sehnsucht, Träumerei, die Kühnheit der jugendlichen Jahre, Schmerz und Hoffnung werden hier vereint. All das verwandelte Chopin meisterhaft in weitgeschwungene Melodiebögen und perlende Läufe. Dabei kann es über die übliche Tempobezeichnung hinweg gesehen werden, um diesem Moment der Inspiration einen Raum zu geben.  „Eine Melodie wird eine Sprache. Man muss das deklamatorisch verstehen.

Struktur des Werkes erfordert fast ein Operndirigat

Es gibt ganz viele Ornamente, die in seiner Musik vorkommen. Und man weiß genau, er hat eine gesangliche Passage gemeint – also nicht pianistisch in dem Sinne von Schnelligkeit. Sondern es muss gesprochen und gesungen werden.“ Chopin setzte nur auf die Nuancen des Klaviers. Er war radikal und kümmerte sich wenig um das Orchestrale und um die sinfonischen Strukturen. Den ursprünglichen Part für das zweite Klavier schrieb der junge Komponist für ein Orchester um. Durch diese offensichtliche Vernachlässigung des Orchesters ist es für den Dirigenten nicht einfach die subtile Verbindung dazwischen herzustellen und er muss fast wie für eine Oper dirigieren.

Zurück zum Konzert

Nun, da sich der koreanische Solist mit dem Komponisten einig war, wirkte alles spielerisch und lässig, die Korrespondenz mit dem ihn perfekt supportierenden Orchester ergab nun ein Ganzes und fügte sich bis zum berauschenden Finale wie ein grosses Puzzle zusammen. Wie man so schön zu sagen pflegt: „Ende gut, alles gut¨“. Das Auditorium spendete langanhaltenden starken, aber nicht stürmischen Beifall, was vom Solisten schlussendlich mit einer kurzen Zugabe in Form von Claude Debussy`s „La fille aux cheveux de lin“ belohnt wurde.

Schostakowitschs „Fünfte“ entführt in den Musikhimmel

Der erste Konzertteil, Chopins Klavierkonzert, mit dem jungen, koreanisch Solisten Seong-Jin Cho, geht bedauernswert fast etwas unter, ob der nun folgenden grandiosen Umsetzung von Schostakowitschs 5. Sinfonie durch das Residenzorchester unter der Leitung des äusserst gut aufgelegten, bis in die Finger – und Zehenspitzen motivierten Michael Sanderling. Kurz und bündig. Einfach der „Hammer“!

Grundsätzliches zum Werk

Das Werk ist viersätzig wie eine romantische Sinfonie, einfach aufgebaut mit Rückgriffen auf altbekannte formale Vorbilder, zum Beispiel die Sonatensatzform oder die Scherzo Form. Und: Sie führt, wie man das seit Beethoven kannte, «vom Dunkel ins Licht», «per aspera ad astra». Der erste Satz ist ein typisch schostakowitscher Sonatensatz, mit einer dramatischen, kraftvollen, marschartigen Durchführung, die allerdings auch ihre grotesken Masken hat. Der zweite Satz ist ein
beliebtes Scherzo. Der dritte, langsame Satz, wird gemeinhin als das
Zentrum des Werkes aufgefasst. Es ist ein sehr nachdenklicher Satz,
der für russische Kommentatoren klare Trauerthemen enthält, wobei
bezeichnenderweise die für russische Beerdigungen charakteristischen
Blechbläser in diesem Satz fehlen; in der Tat bäumt sich der Satz zu
einem gewaltigen emotionalen Tremolo-Höhepunkt auf. Völliger Gegensatz
dazu ist der abrupte, laute Beginn des Finales. Es ist eine leichte
Abwandlung des Marschthemas des ersten Satzes in der Vierten
Sinfonie. Das Finale bietet einen ruhigeren Mittelteil, indem
Schostakowitsch ein Eigenzitat hinein „schmuggelt“. Es sind dies Zeilen aus dem
Pushkin-Gedicht „Wiedergeburt“, das Schostakowitsch direkt zuvor vertont
hatte; in diesen Worten spricht der von der Macht gebeutelte
Künstler. Direkt im Anschluss beginnt die mächtige anschließende Coda
mit ihrem zweifelhaft optimistischen Schluss.
Das Licht, die Erlösung, ist der Schluss: ein glorioser Marsch, mit fortissimo schabenden Geigen, donnernden Pauken, jaulendem Blech. Den Jubel hat Schostakowitsch derart inszeniert, dass es schon fast wehtut. Ätzend, diese Lautstärke, erbarmungslos, diese Achtel, geschunden, die Membran der Pauke unter diesen Quarten-Schlägen.

Ein Trip, den Du ohne Drogen antreten kannst

Michael Sanderling Foto Marco Borggreve

Das Orchester und der Dirigent nehmen uns mit auf eine packende Reise durch die Partitur, die eigentlich schlicht unbeschreiblich ist, zu sehr wühlt diese Interpretation auf. Ob Bläser, Streicher, Schlagwerk, Harfe, Triangel, ob piano, mezzo oder forte, jede Nuance sitzt, jeder Ton, jedes Tempo, die Streicher  ob gestrichen oder gezupft, ob die Bläser sich leicht über die Streicher schwingen oder Tragik und Schmerz schmetternd äussern, die Paukisten mal, sprichwörtlich, so richtig auf die Pauke hauen dürfen. Du weißt nicht, ist das nun schmerzhaft, oder freudig, sogar, am wahrscheinlichsten, schmerzhafte Freude. Nicht nur das Publikum ist gepackt, nein, man sieht auch den Musikern an, wie sie sich freuen, leiden, an – und entspannen, sich dem akustischen Orgasmus entgegenspielen, das Auditorium auf den Trip mitnehmen. Der kontinuierliche Spannungaufbau explodiert nach dem letzten Ton in einer wahren Applausexplosion, Bravorufen und einer langen stehenden Ovation. Fazit: Wenn Du das hörst, brauchst Du keine Drogen mehr!

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: sinfonieorchester.ch/home

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