Bei meinem letzten Aufenthalt in Wien haben mir liebe Bekannte ein besonderes Buch empfohlen. Der Titel des Buches könnte auch «Vom Flüchtlingskind zum Fussballstar» heissen – es ist die Lebensgeschichte eines Wiener Knaben, der als Achtjähriger aus der Stadt flüchten musste und nach seiner Rückkehr eine erfolgreiche Doppelkarriere aufgebaut hatte. Ja, nicht nur als Fussballstar, sondern auch als Vermittler zwischen Hollywood und Europa! Jetzt, wo man nur vom Gräuel und Elend des 2. Weltkriegs hört, wärmt es einem das Herz zu wissen, dass einige Schicksale eine Wendung zum Guten fanden, dass manche Flüchtlingskinder von damals doch noch ein erfülltes Leben leben konnten. Die Geschichte endet trotz aller Gefahren mit einem Happy End. Wie ein Märchen – ist aber keins.
Flucht aus Wien
1938: Das Ehepaar Dolly und Richard Menasse versuchte verzweifelt, mit seinen Kindern aus Österreich zu flüchten, sie verfügten aber nicht über die nötigen finanziellen Mittel. Die Ehefrau war Katholikin, das Familienoberhaupt Jude – und den Rassengesetzen entsprechend waren sie bald allen Schikanen ausgesetzt.
«Ich hatte das Wort «Jude» überhaupt noch nie gehört. Auch in der Schule war keine Rede davon…..Ich wurde nie beschimpft. Ich war gut in der Klasse integriert und beliebt. Und von einem Tag auf den nächsten durfte ich nicht mehr in die Schule gehen.»
Nach dem «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich 1938 wollten Dolly und Richard wenigstens ihre Söhne retten.
Man kann es nicht hoch genug würdigen: England hatte sich bereit erklärt, gefährdete Kinder aufzunehmen. Für die Reise- und Umsiedlungskosten kamen die Jüdische Gemeinde und die «Society of Friends», die Freikirche der Quäker auf. Ihrem Beispiel folgten bald die Niederlande, Frankreich, Belgien und Schweden. Die sogenannten Kindertransporte rollten ab 1. Dezember 1938 aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei in Richtung England. Die Familie Menasse musste freilich zahllose bürokratische Hürden überwinden, bis ihre Söhne, der 15-jährige Kurt und der 8-jährige Hans, die ersehnten Aufnahmebewilligungen erhielten. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit: Der Kriegsausbruch im September 1939 bedeutete das Ende dieser Aktion. Bis dahin wurden ca. 10.000 jüdische Kinder aus unmittelbarer Lebensgefahr in Sicherheit gebracht – die meisten sahen ihre Eltern nie wieder.
Die Jahre in England
Nach einer schwierigen Anfangszeit und schmerzhaften Trennungen hatten sich die Knaben in einem Londoner Aufnahmezentrum wiedergefunden und konnten auch gemeinsam eine Schule besuchen. Bis sich alles schlagartig änderte! Zwei Tage nach Englands Kriegserklärung an Deutschland wurden die Schulen und Kinderheime der Metropole blitzartig geräumt und hunderttausende Kinder aufs Land in Sicherheit gebracht. Jetzt mussten sich die Brüder erneut trennen, für einige Jahre gab es für sie kein Wiedersehen.
Die britische Regierung organisierte in ländlichen Gegenden Pflegeeltern für die Flüchtlingskinder. Hans kam mit zwei anderen Knaben zu einem kinderlosen Arbeiter-Ehepaar nach Dunstable und blieb bei ihnen sieben Jahre lang. Sie lebten in einfachen Verhältnissen – wurden allerdings liebevoll versorgt und wie eigene Söhne behandelt. Helfen mussten sie wohl im Garten und im Haus. Um das knappe Haushaltgeld aufzubessern, hatte Hans schon mit 12 Jahren Zeitungen ausgetragen oder sich als Fahrradkurier verdingt. Nach der obligatorischen Schulzeit begann er eine Ausbildung als technischer Zeichner und konnte bald als solcher arbeiten.
Sein grösstes Interesse galt indes dem Sport, vor allem dem Fussball, den er schon in Wien kennen- und lieben lernte. Im «Pioneer Boys Club» fiel der talentierte Bub früh auf. Er spielte bald bei Luton Town, einem Klub der zweiten englischen Liga und wurde sogar zu einem Probetraining von Arsenal London eingeladen. Aber sein Schicksal bekam erneut eine andere Wendung.
«Ich hatte keine Ahnung gehabt, von gar nichts. Ich wusste nichts über die Judenverfolgung und auch nichts von Konzentrationslagern. Ich wusste nur, dass es Krieg zwischen Nazi-Deutschland und England gab. […] Ich wusste, dass die Russen auf Berlin zulaufen und die Amerikaner vorrücken. Und irgendwann stand gross in der Zeitung: Der Krieg ist vorbei!»
Die Rückkehr
Die Eltern überlebten die qualvollen Jahre in Wien, vor allem, weil die Katholikin nicht bereit war, sich von ihrem Ehemann zu trennen. Im Falle einer Scheidung bei «Mischehen» verlor der jüdische Partner seinen Schutzstatus und wurde deportiert. So war sein Leben gerettet – aber zu welchem Preis! Ohne eigene Wohnung und Einkommen, mit Zwangsarbeit und Krankheiten …. die Spirale ging immer tiefer abwärts. Überlebt, ja. Aber seelisch und körperlich gebrochen. Bei Kriegsende liessen die Eltern ihre Söhne, von denen sie jahrelang nichts gehört hatten, sofort durch das Internationale Rote Kreuz suchen.
Hans hatte in England unterdessen ein sorgenfreies Leben – bis er im Winter 1945 Post aus Wien erhielt.
«Als ich den Brief bekommen habe, wusste ich also, dass meine Eltern leben. Ich habe angefangen, mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, zurückzugehen. Aber das war nicht so einfach: ich hatte einen guten Job in England, ich habe Fussball gespielt und angefangen, mit Mädchen auszugehen.»
Er entschied sich trotzdem, zu seinen leiblichen Eltern zurückzukehren, und trat erneut eine Reise ins Ungewisse an.
Schon Monate vor ihm traf auch sein Bruder Kurt in Wien ein. Als stolzer Sergeant der britischen Armee arbeitete er als Dolmetscher in ihrem Hauptquartier. Der Anfang für Hans war ungleich schwieriger: Er lebte mit den traumatisierten Eltern in einer winzigen Wohnung zu dritt mit Lebensmittelkarten für zwei! Ausserdem musste er seine gänzlich vergessene Muttersprache wieder erlernen und sich gleich Arbeit suchen, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Als technischer Zeichner hatte er keine Chance auf einen Job. Aber er konnte etwas, was damals sehr begehrt war und nur Wenige konnten: fliessend Englisch sprechen!
Obendrein galt er damals schon als hoffnungsvolles Fussballtalent. Was macht man mit diesem Kapital im Alter von 17 Jahren in einer kriegsversehrten Stadt?
Hans Menasse machte das Beste daraus.
Eine Doppelkarriere
Die amerikanische Filmindustrie wollte einen neuen Markt in Europa erschliessen und durch eine glückliche Fügung wurde Hans als Bürolehrling bei ihrer Verleihfirma angestellt. Der Name der Gesellschaft wechselte in den Jahrzehnten immer wieder, je nach Fusionen oder Aufkauf. Der Name ihres wichtigsten Mitarbeiters jedoch nicht: Hans Menasse. Seine Aufgabe war, die Vermarktung eines Filmes vorzubereiten. Sechs Monate vor dem Kinostart schickte das Studio eine Kopie nach Wien, um sie zu synchronisieren oder mit Untertiteln versehen zu lassen. Man brauchte Zeitungsartikel, Presseinformationen, Fotos und Plakate – das bedeutete viel Arbeit, ohne die Technologie von heute! Mit Kontakten zu den richtigen Leuten, guten Ideen und viel Bürokram musste Hans jede Premiere vorbereiten, damit der neue Streifen aus Hollywood erfolgreich wird.
Er machte die Arbeit so gut, dass er bald zum Pressechef aufstieg, und fast fünf Jahrzehnte lang Hollywood-Stars bei ihren Besuchen in Wien betreute. Er war auch bei ihnen geschätzt und beliebt – zahlreiche Fotos bezeugen es.
Einen Broterwerb hatte er also. Aber das Wichtigste für ihn, der Fussball, blieb auch nicht auf der Strecke.
Der Vater hatte den 17-jährigen bald nach seiner Rückkehr bei dem First Vienna Football Club für den Nachwuchs-Training angemeldet. Der Verein spielte in der damals größten Naturarena Europas, der Hohe Warte, mit einem Fassungsvermögen von 80.000 Zuschauern. Hans erfüllte die «hohen Erwartungen» und konnte bald als Aussenstürmer in die erste Mannschaft aufsteigen: sein Debut erfolgte 1950, als er mit einem Tor und als Assistgeber glänzte.
Von da an ging es steil nach oben.
1953 war die FK Austria Wien, der grosse Rivale von Vienna, im Stadion Hohe Warte bei einem Meisterschaftsspiel zu Gast. Beide Clubs waren damals nicht nur österreichische, sondern auch europäische Spitze. Menasse hatte bei einem Sieg von 5:2 gleich vier Tore geschossen!
Es lohnt sich, nachzulesen, wie der «Sportfunk» darüber berichtete:
«Die Austria wurde eigentlich von einem Mann geschlagen: von Hans Menasse. […] Erstaunlich, mit welcher Ruhe er dem widerspenstigen Leder seinen Willen aufzwang und stets das machte, was man am wenigsten erwartete. […] Austrias Verteidigung wusste sich keinen Rat.»
Menasse spielte jahrelang mit der Vienna, später mit der Austria und wurde 1953 Mitglied der Nationalmannschaft. Bei Gastspielreisen mit seinem Klub lernte er viele Länder Europas und Südamerikas kennen.
Er war einer der populärsten und bekanntesten Sportler Österreichs.
Man erzählt, dass er einmal einen weltberühmten Hollywoodstar zum Hotel Sacher begleitete. Ein Passant fragte den anderen: Wer steht do neben dem Menasse?
Wir können uns auch fragen: War es nötig, neben solchen sportlichen Erfolgen einen anderen Beruf auszuüben? Er war die ganze Zeit auch noch als Pressebeauftragter des amerikanischen Filmverleihs tätig.
Naja, das waren andere Zeiten; mit dem Fussballspiel verdiente man kaum etwas. Die gefeierten Stars von heute sollten diese Zeilen lesen:
«Es gab im Fussball fast keine Profis, sondern nur Vertragsspieler. Bei der Vienna wurde alles in die Renovierung des devastierten Stadions auf der Hohen Warte gesteckt. Die Zuschauerränge waren auch kaputt. Die Spieler wurden ständig vertröstet und haben anfangs ganz wenig Geld bekommen.»
So blieb er auch später bei seinem reizvollen Job und sicherlich hatte er es genossen – seine wahre Berufung war jedoch das Fussballspiel.
Hans Menasse kann im Kreis seiner Familie auf ein erfülltes, erfolgreiches Leben zurückblicken.
Und ich, als Leserin dieses Buches empfinde tiefe Dankbarkeit, dass nach den dunkelsten Zeiten solche glücklichen Wendungen möglich waren.
Die Zitate, wenn nicht anders vermerkt, stammen von Hans Menasse.
Das Buch «Hans Menasse The Austrian Boy» ist 2019 im Böhlau Verlag erschienen.
Autoren: Alexander Juraske, Agnes Meisinger, Peter Menasse.
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