1816 Berlin «Fanny, Fanny, schau mal, was ich bekommen habe!» Der Siebenjährige macht Luftsprünge vor Freude und zieht die ältere Schwester stürmisch mit sich, um ihr das kostbarste Geschenk unter seinen Weihnachtsgaben zu zeigen: ein Puppentheater!«Weisst du, was wir alles spielen können? Goethe und Shakespeare! Und alle Märchen, die ich liebe, … ist es nicht wunderbar?»
Das Kind, das derartig ins Schwärmen kam, ist selbst eine Märchenfigur: eine zierliche Gestalt mit langen Haaren, feinen Gesichtszügen und Augen, die offenherzig in die Welt schauen. Gekleidet in kostbare Stoffe wie ein Prinz aus dem Orient, mit bauschender Pluderhose und samtenen Wams steht er da – graziös, stolz, glücklich. Seine geniale Kinderseele reisst ihn zu Höhenflügen, die sogar für manche Erwachsenen schwer zu bewältigen wären. Zugegeben: Es ist nur meine persönliche Vision vom siebenjährigen Felix Mendelssohn-Bartholdy. Was jetzt folgt, ist jedoch historische Wahrheit.
Das Wunderkind
Der Knabe im Alter von sieben Jahren liest und geniesst die grosse Literatur, Goethe und Shakespeare sind seine Leitsterne. Sobald die Eltern seine ausserordentliche musikalische Begabung bemerken, geniesst er Unterricht bei den besten Professoren von Berlin im Klavier-, Geige- und Orgelspiel. Er lernt natürlich auch schwimmen, fechten und malen, wie es für Sprösslinge aus vermögenden Häusern damals üblich ist. Die allgemeine schulische Ausbildung wird auch nicht vernachlässigt: Privatlehrer unterrichten ihn und seine Geschwister in Französisch, Italienisch, Englisch, Geschichte und Kunst. Bald kommt das Aquarellieren dazu, was der Junge auf höchstem Niveau erlernt und lebenslang ausübt, um seinen Reiseberichten kostbare Illustrationen beizufügen.
Es klingt wie ein Märchen – gar noch schöner. In der Tat, er bekam von den Göttern alles geschenkt: Talent, Intelligenz, Empfindsamkeit, gepaart mit einem noblen Charakter. Und die Eltern sind in der glücklichen Lage, mit ihrem Vermögen die optimalen Bedingungen für seine menschliche und musikalische Entwicklung schaffen zu können.
So entfaltet sich, umsorgt und behütet, ein kostbares Talent im Hause Mendelssohn. Sein Grossvater, Moses Mendelssohn ist der berühmte Philosoph und Humanist, seine Mutter hochmusikalisch und belesen, der Vater, ein Bankier, von allen schönen Künsten angetan. Felix ist buchstäblich ein Glücklicher: Im frühen Alter nicht aufs Geldverdienen angewiesen, muss mit seinem Vater nicht von einem Auftritt zum nächsten hetzen, oder untertänigst bei adligen Herren um Aufträge betteln. Und doch ein Wunderkind, wie wir vor Mozart und nach Mozart seinesgleichen nicht finden.
Die beiden älteren Geschwister, Fanny und Felix, beginnen bald mit dem Kompositionsunterricht bei dem angesehensten Musiker Deutschlands: Professor Carl Friedrich Zelter. Felix ist schon zehn Jahre alt; reif für die schwierigen Lehrsätze der Musik und Bachs Polyphonie. Zelter versteht das Ausnahmetalent, liebt und fördert es nach bestem Wissen. Er nimmt den Knaben stolz zu seinem alten Freund, Geheimrat Goethe, nach Weimar mit, der diesen Besuch über alles geniesst. Der wache Geist und die liebenswürdige Natur des Jungen erfüllen ihn mit Freude. Er bewundert sein musikalisches Talent und kann sich an seiner Schönheit nicht sattsehen. «Jetzt hört alle, alle zu», schrieb Felix an die Eltern und die Schwester in Berlin. «… Jeden Morgen erhalte ich vom Autor des Faust und des Werther einen Kuss, und jeden Nachmittag vom Vater und Freund Goethe zwei Küsse. Bedenkt!!! … Nachmittag spielte ich Goethen über 2 Stunden vor, teils Fugen von Bach, teils phantasierte ich …»
Ein Leben auf der Sonnenseite?
Nicht nur, sie waren doch Juden. Obwohl die Familie 1816 zum Christentum konvertierte, überlegte der Vater ernsthaft, wegen der antisemitischen Ausschreitungen nach Paris auszuwandern. Auf der Strasse riefen die Rotzjungen hinter Felix: »Hep, hep!» Sogar der angebetete Professor Zelter schrieb verletzende Worte über ihn: «Es wäre wirklich eppes Rores, wenn aus einem Judensohne ein Künstler würde.» Und im selben Jahr gab es ein Schreiben im preussischen Ministerium: «Es wäre zu wünschen, wir hätten gar keine Juden im Lande. Die wir einmal haben, müssen wir dulden, aber unablässig bemüht sein, sie möglichst unschädlich zu machen.» Aber genug von getrübter Harmonie, kehren wir zu Shakespeare zurück.
Der siebenjährige Felix kannte sein Lieblingsstück «Ein Sommernachtstraum» in- und auswendig, meist als Erzählung, aber sicherlich gewisse berühmte Passagen auch im Originaltext. Er hatte es manches Mal mit den Geschwistern durchgespielt, die Geschichte mit allen Handlungssträngen in sich aufgesogen und darüber am Klavier fantasiert. Im Jahre 1826 erlebt er eine besonders glückliche Zeit mit seinen Geschwistern und Freunden: Es wird gespielt, erzählt, musiziert und fantasiert, im Herrenhaus und im grossen Garten. Und dasselbe Jahr bringt ihm noch ein Geschenk!
Eine Inspiration ohnegleichen
In Deutschland erscheinen die ersten drei Bände von Shakespeares dramatischen Werken, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Eine Welle der Begeisterung erfasst das Land. Endlich können die grossen Dramen und Komödien in der eigenen Sprache gelesen und gespielt werden! Bei dem 17-jährigen Felix – nach beachtlichen kompositorischen Erfolgen – sind die schönsten Kindheitserinnerungen geweckt. Er greift zur Feder und schreibt die «Ouvertüre zum Sommernachtstraum». Shakespeares Zauberwelt entsteht diesmal als Musik.
Und was für eine Musik!
Mozart weckte schon als Siebenjähriger die allergrössten Hoffnungen – seine Kompositionen im Alter von 17 Jahren gehören indes nicht zum goldenen Repertoire der Konzertsäle, die unsterblichen Werke kommen erst später. Der junge Mendelssohn schrieb aber in seiner stürmischen Begeisterung ein Werk, das die Menschen seitdem entzückt und verzaubert; ein Werk, dessen Klänge Shakespeare würdig sind.
Es fängt mit vier wunderbaren Akkorden an: Der Vorhang geht auf, wie in seinem geliebten Puppentheater, das Spiel beginnt. Der Aufbau der Komposition ist perfekt, die harmonischen Fügungen einmalig: Das Handwerk sitzt. Aber es ist unendlich mehr – die Magie dieser Nacht im Wald von Athen hat der junge Komponist mit traumwandlerischer Sicherheit wiedergegeben. Die Elfen und Kobolde schwirren durch die Luft, das majestätische Königspaar zieht feierlich ein, die Verliebten streiten sich und die Handwerker trampeln schwerfällig herum. Sogar das I-A Geschrei des verwandelten Zettels ergötzt die Zuhörer mehrmals. Alles ist so vollkommen, wie es nur in einer Sternstunde entstehen konnte.
Die Menschen hatten bei der Uraufführung Tränen in Augen und staunten: Ist es möglich, kommt alles wirklich von einem Halbwüchsigen?
Von wem sonst? Von den trockenen Stubengelehrten, die ihn unterrichteten? Spätestens da hatte Professor Zelter verstanden, dass der «Judensohn» ausgelernt hat und seinen Meister wie ein Komet überflog.
Das Werk des Siebzehnjährigen galt damals schon als Meisterstück, das seinesgleichen suchte, und trat einen Siegeszug um die Welt an. Kann der erwachsene Komponist je wieder diese Höhe der Popularität erreichen? Jawohl. Und noch mehr.
Es geht wieder um diese magische Nacht
1842 befasst sich Mendelssohn, inzwischen 34-jährig, mit einem neuen Auftrag. Der König von Preussen, Friedrich Wilhelm IV., bittet ihn, nach seinem berühmten Vorspiel eine komplette Bühnenmusik zu Shakespeares «Sommernachtstraum» zu schreiben. Es entsprach damals dem Zeitgeist, zu bekannten Theaterstücken Begleitmusik zu schreiben, das war die sogenannte Schauspielmusik, die auf der Bühne als Teil der Handlung gespielt wurde. Mendelssohn schreibt also 17 Jahre nach seiner weltbekannten Ouvertüre noch mehrere Sätze und ein Finale zu dieser Märchengeschichte. Und wieder gelingt ihm ein Geniestreich!
Unter den Sätzen befindet sich nämlich das Stück, dem ein noch grösserer Erfolg zuteil wird. Sein «Hochzeitsmarsch» ist wahrscheinlich die meistgespielte Musik aller Zeiten, erklingt sie doch tagtäglich auf dem Globus unzählige Male, von den Fidji-Inseln bis nach Grönland. Menschen aller Nationen, die den Namen Felix Mendelssohn-Bartholdy nie gehört haben, feiern ihren schönsten Tag mit seiner Musik. Sie erkennen in ihr die eigene Lebensfreude und das jubilierende Glück aller Liebenden.
Während des Nationalsozialismus wurden auch Mendelssohns Werke als «entartete Kunst» verboten. Man hatte seine Büsten und Gedenktafeln entfernt und die Komponisten des Reiches aufgefordert, neue Bühnenmusik, und damit auch einen neuen Hochzeitsmarsch, zum «Sommernachtstraum» zu schreiben. Die Klugen unter ihnen wollten sich auf einen Wettstreit mit Mendelssohn nicht einlassen und winkten vornehm ab.
Die Organisten des Landes aber, in den erhabenen Domen und in den bescheidenen Dorfkirchen standen plötzlich vor einem unlösbaren Problem: Womit diese einmalige Musik ersetzen?
Aber das wäre eine andere Geschichte.
Text: www.annarybinski.ch
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