Mein letzter Aufenthalt in Budapest hat mich mit Trauer und Wut erfüllt. Diesmal versuche ich etwas zum ersten Mal: über Tagespolitik zu schreiben.
Ungarn, meine alte Heimat, blühte nach der politischen Wende 1989 auf, öffnete die Tore zur Demokratie und zum Westen, es war ein Musterbeispiel für andere Ostblockstaaten. Jetzt gehört es zu den Ärmsten in Europa, die Inflation ist die höchste in der Europäischen Union. Mehr als 600.000 Arbeitslose und 4.000.000 in Armut lebende Personen zeugen davon, dass die Regierung die EU-Gelder für ihre grössenwahnsinnigen Projekte und zur eigenen Bereicherung verwendet hat, nicht für das Wohl der Bevölkerung. Wo sind die enormen Summen geblieben? Viktor Orbán ist nicht gewillt, eine saubere Abrechnung der überwiesenen Euros in Brüssel zu präsentieren, lieber nimmt er eine saftige Busse in Kauf. Er weiss am besten, warum – und versucht mit den EU-Behörden zu spielen, wie eine Katze mit der Maus. Inzwischen steht das Gesundheitswesen vor dem Kollaps; nicht nur die Spitäler sind schlecht ausgerüstet, auch Ärzte und Fachkräfte fehlen. Viele von ihnen haben den Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse aufgegeben und sind ins Ausland gegangen. Aber das Volk ist kaum informiert – in ländlichen Gebieten herrschen seit Jahren nur die von der Regierung beeinflussten Medien. Die sogenannte «Pressefreiheit», die der Ministerpräsident Viktor Orbán so gern in den Mund nimmt, existiert kaum noch, oppositionelle Zeitungen und Sender wurden nach und nach ausgeschaltet. Über den aktuellen Kampf der letzten kleinen Bastion der freien Meinungsäusserung möchte ich jetzt berichten.
In Ungarn ist seit Jahren ein echter Kulturkrieg in Gange
Sogar auf mehreren Ebenen. Manche Feldzüge gegen Andersdenkende im Bereich der Wissenschaft, Justiz, Hochschulwesen und Medien endeten mit dem Sieg der Regierung. Besonders viel Ärger gab es aber mit einem kleinen Radiosender: Den will Orbán endlich als letztes Forum der Opposition zum Schweigen bringen.
Seit 1994 gibt es eine Radiostation, die sich der freien, unabhängigen Berichterstattung verpflichtet fühlt: das Klubrádió, mit der aktuellen Sendefrequenz 92.9. Nachdem die Regierung die Zeitungen und TV-Programme nach und nach geschickt unter ihre Kontrolle gebracht hat, blieb praktisch nur diese Radiostation übrig, wo der freie europäische Geist herrscht, und Oppositionelle und frustrierte Bürger zu Wort kommen. Der Medienrat hat ihr einige Male wegen Lappalien Strafzahlungen aufgebrummt, die allerdings korrekt beglichen wurden. Nach jahrelangem Kampf um seine Existenz gewann das Klubrádió sogar einen Prozess vor Gericht – sein Sendegebiet wurde trotzdem auf den Grossraum Budapest beschränkt. Das bedeutete, dass es landesweit Hörerschaft und damit wertvolle Werbeeinnahmen verlor; sie sind jetzt auf jährliche Spendenaktionen und Donatoren angewiesen.
Im ganzen Land herrschen demzufolge seit Jahren nur die von der Fidesz-Partei beeinflussten Zeitungen und Sender. Die vorgeschriebene Richtung der Ideologie: christlich-national, rassistisch, Europa-feindlich und Demokratie-feindlich, bis zum Äussersten. Orbán hat sogar Plakate in Grossformat aufhängen lassen, mit den Gesichtern von Jean-Claude Juncker, dem damaligen EU-Ratspräsidenten, und Georg Soros, dem Gründer der EU-Universität! Sie wurden als die Erzfeinde des christlichen Ungarn verspottet. Zugegeben: vor Jean-Claude Junckers anstehendem Besuch hat man die Plakate eilig entfernt, den Geldsegen aus Brüssel wollte man ja nicht gefährden. Aber Georg Soros, der Milliardär und Philanthrop, der weiterhin Demokratie und Liberalismus forderte, avancierte vom einstigen Förderer zum Feindbild Nr.1 der Magyaren. Feindbilder müssen ja sein: so kann Orbán sich als einziger präsentieren, der das Land verteidigen kann. Gewisse Ähnlichkeiten mit anderen Möchte-Gern-Diktatoren lassen sich nicht leugnen. Man denke nur an Donald Trump …
So kann Viktor Orbán seine Anhängerschaft unbehelligt um sich scharen: Das sind seine Parteifreunde, das sind die superreichen Unternehmer, die durch staatliche Aufträge noch reicher werden, die Rechtsradikalen, die Neonazis, die Rassisten – und alle, die durch obengenannte Personen angestellt werden und ihren Job nicht verlieren wollen. Ausserdem alle anderen, die die Wahrheit gar nicht hören können, weil es im Lande kaum eine neutrale Berichterstattung gibt.
Klubrádió: Kampf ums Überleben
Die Regierung spielt jetzt ihren letzten Trumpf aus. Im Februar 2021 läuft die offizielle Betriebsgenehmigung für den Sender aus und wird nicht mehr verlängert. Für diese Sendefrequenz können sich andere Gesellschaften bewerben. Der Medienrat, der diese vernichtende Massnahme angeordnet hat, wirft dem Klubrádió «fortgesetzte Gesetzesverstöße» vor. Der Rat besteht – wen wundert es? – aus den rechtsnationalen Parteigängern des Ministerpräsidenten!
Es ist natürlich eine politische Entscheidung: Sie wollen endlich den Sender abschalten. Um jeden Preis! Den einzigen Sender, der die unbequemen, traurigen Wahrheiten ausspricht, bei dem verzweifelte Bürger anrufen können, die mit ihren Problemen nicht klarkommen, die von ihren Einkommen nicht leben können und sich alleingelassen fühlen.
Viele fragen sich verzweifelt, wie ich auch: warum unternimmt die Europäische Gemeinschaft noch immer nichts? Dass Orbán EU-Recht missachtet und europäische Politiker verspottet, sollte endlich Folgen haben!
Die EU sollte die Rechtstaatlichkeit einfordern, die von dieser Regierung auf Schritt und Tritt verletzt wird. Oder den Geldhahn zudrehen. Wie lange will man dieser korrupten Regierung noch Geld pumpen?
Das Klubrádió und seine berufenen Mitarbeiter sind nicht bereit, den Kampf aufzugeben. Sie sammeln Unterschriften und organisieren Demonstrationen. Es können noch immer Wunder geschehen – wie damals, in biblischen Zeiten. Aber viel Zeit dafür gibt es nicht mehr.
Die Fotos wurden von Dr. Peter Daniel zur Verfügung gestellt.
Text: www.annarybinski.ch
Homepages der andern Kolumnisten:
www.leonardwuest.ch www.herberthuber.ch