Menschen haben bereits in der Mittelsteinzeit in den Alpen nach Kristallen gesucht. Nun rechnet die Wissenschaft damit, dass die zurückschmelzenden Gletscher weitere Spuren aus früheren Epochen preisgeben. Um die Funde zu sichern, brauchen sie die Unterstützung aufmerksamer Berggängerinnen und Berggänger.
Ein einheimischer Strahler stiess vor acht Jahren in einer Kristallkluft zuhinterst im Urner Maderanertal, unmittelbar am zurückschmelzenden Brunnifirn-Gletscher, auf Holzreste, Geweihstangen und Kristallsplitter. Schnell war klar: An dieser Stelle hatten schon einmal Menschen nach Kristallen gesucht. Das Gletschereis hatte die Gegenstände während Jahrtausenden konserviert.
Untersuchungen zeigten, dass Menschen die Kristallkluft bei der Unteren Stremlücke zwischen 8000 und 5800 Jahren vor Christus wiederholt aufgesucht haben. Damit sind die Funde aus dem Kanton Uri die ältesten im Eis konservierten Artefakte im ganzen Alpenraum. In der Mittelsteinzeit suchten Menschen gezielt nach Kristall in den Urner Bergen und bearbeiteten sie vor Ort – beispielsweise zu Messern, Pfeilspitzen, Bohrern oder Kratzern.
Im vergangenen Herbst führten Archäologen bei der Fundstelle zwischen dem Vorderrheintal bei Disentis/Sedrun und dem Urner Maderanertal eine Rettungsgrabung durch (siehe Kastentext). Dies geschah im Auftrag der Fachstelle Denkmalpflege und Archäologie der Justizdirektion des Kantons Uri, die zuständig ist für archäologische Untersuchungen auf Kantonsgebiet. Das Urner Institut «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern in Altdorf ist derzeit daran, gemeinsam mit dem Kanton Uri das 2020 geborgene Material im Rahmen des Projekts «Bergeis – Bergkristall aus den Alpen in der Mittelsteinzeit» wissenschaftlich aufzuarbeiten. Jedes noch so kleine Teilchen könnte wertvolle Hinweise auf frühere Epochen liefern.
Funde am Gletscherrand sollen gemeldet werden
Da sich die Gletscher stark zurückziehen, kommen nun an verschiedenen Orten im Alpenraum Objekte zum Vorschein, die während Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden im Eis eingeschlossen waren. Solche Funde sind für die Archäologie von besonderer Bedeutung. Objekte aus organischem Material (Textilien, Holz, Leder, Haut, usw.) können im Eis über sehr lange Zeiträume erhalten bleiben – viel länger als in gewöhnlichen Böden. Nach dem Freischmelzen zersetzen sie sich aber sehr schnell. Die Funde liefern der Wissenschaft Informationen über längst vergangene Epochen.
Die Wissenschaft erwartet nun, dass die zurückschmelzenden Gletscher weitere Spuren der Vergangenheit preisgeben. Um diese klimatisch bedrohten Gletscherfunde sicherzustellen, sind Forschende auf die Unterstützung und Informationen von Berggänger/innen, Strahler/innen oder Jägern/innen angewiesen: Sie werden angehalten, mögliche Fundgegenstände zu fotografieren, zu markieren und den genauen Standort (mit Koordinaten) den entsprechenden archäologischen Fachstellen oder Behörden mitzuteilen. Denn für archäologische Funde ist der Kanton zuständig, auf dessen Boden sie gefunden wurden. Funde sollten nur dann mitgenommen werden, wenn sie unmittelbar bedroht sind oder der Ort nicht wiedergefunden werden kann. Die Kontaktdaten der zuständigen Fachstellen findet man online unter www.archaelogie.ch oder www.alparch.ch. Für Uri befindet sich der Kontakt unter www.ur.ch/dienstleistungen/
Flyer und Plakate weisen Alpinistinnen und Alpinisten auf Funde hin
Neue Flyer und Plakate, verteilt in der ganzen Gotthard- und Oberalpregion, informieren die Berggängerinnen und Berggänger nun über das Forschungsprojekt. Gleichzeitig weisen sie die Alpinistinnen und Alpinisten auf mögliche Überraschungen am Gletscherrand hin. «Es ist durchaus denkbar, dass in den Urner Bergen weitere steinzeitliche Abbaustellen oder sonstige Funde zum Vorschein kommen», sagt Projektleiter Marcel Cornelissen. Denn die mobilen Wildbeuterinnen und Wildbeuter der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) durchstreiften zwischen 9500 und 5500 vor Christus weite Teile des Alpenraums und fast alle Höhenlagen. In den vergangenen Jahrzehnten fanden Archäologen an diversen Orten im Kanton Uri und im benachbarten Alpenraum Spuren, die auf die Kristallverarbeitung während der Mittelsteinzeit hindeuten. «Die Kristallkluft am Brunnifirn war nur einer von vielen Aufenthaltsorten dieser mobilen Gemeinschaft», so Cornelissen.
Das Projekt «Bergeis – Bergkristall aus den Alpen in der Mittelsteinzeit» wird durchgeführt vom Urner Institut «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern in Kooperation mit der Abteilung Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Uri. Weitere Partner des Forschungsprojekts sind der Archäologische Dienst Graubünden und das Kantonale Amt für Archäologie Wallis. Die Projekt-Webseite, die Plakate und die Flyer wurden finanziell unterstützt von der Jubiläumsstiftung der Mobiliar und der Otto-Gamma-Stiftung.
Hinweis
Mehr Informationen zum Projekt «Bergeis – Bergkristall aus den Alpen in der Mittelsteinzeit» gibt es unter www.kulturen-der-alpen.ch/
Archäologe zeigt Fundstelle im Hochgebirge
Im September kann die Fundstelle bei der Unteren Stremlücke im Rahmen des Projekts «Bergeis – Bergkristall aus den Alpen in der Mittelsteinzeit» besichtigt werden. Projektleiter Marcel Cornelissen, Archäologe im Auftrag des Instituts «Kulturen der Alpen» und des Kantons Uri, wird am Samstagabend, 11. September 2021 in der Cavardirashütte einen kurzen Vortrag über die Gletscherarchäologie und die Bedeutung der Bergkristalle während der Steinzeit halten. Am Sonntag, 12. September 2021, wird er bei guter Witterung von 9 bis 16 Uhr bei der Fundstelle sein und Auskünfte erteilen. Es wird eine freiwillige Kollekte zur Deckung der Unkosten erhoben. Das Angebot richtet sich lediglich an gut geübte Alpinistinnen und Alpinisten, da der Gletscher selbstständig überquert werden muss. Eine Anmeldung für eine Übernachtung in der SAC-Hütte ist obligatorisch.[content_block id=99667 slug=willkommen-im-hotel-central-ristorante-pizzeria-da-mario-tradition-und-leidenschaft-in-2-generation-seit-1978-italienische-spezialitaeten-mit-marktfrischen-saisonalen-zutaten]