Besetzung und Programm:
Bamberger Symphoniker
Jakub Hrůša Dirigent
Juliane Banse Sopran
Ilya Gringolts Violine
Offertorium für Sopran und Orchester nach einem Gedicht von Emily Dickinson
Uraufführung
Konzert für Violine und Orchester
Schweizer Erstaufführung
move 01-04 für Orchester
Erste Gesamtaufführung aller bestehenden Teile (move 01-03 in revidierten Fassungen, Erstaufführungen)
Die Orchestermitglieder hatten sich auf der Bühne eingerichtet und stimmten ihre Instrumente, bevor sich Juliane Banse, die in Zürich aufgewachsene Sopranistin und der 1981 im tschechischen Brno geborene Dirigent Jakub Hrůša dazugesellten, beide mit «Coronamaske» dekoriert., wie sie auch die ca. 900 Besucher tragen mussten. Im Konzertsaal anwesend waren auch, nebst Festivalintendant Michael Häfliger, Komponist*innen zeitgenössischer Musik, u.a. Wolfgang Riehm und die drei Schöpfer*innen der an diesem Abend aufzuführenden Werke.
Offertorium für Sopran und Orchester nach einem Gedicht von Emily Dickinson Uraufführung
Unter Offertorium versteht man den liturgischen Gesang zur Gabenbereitung bei der heiligen Messe. Musikalisch charakterisiert Iris Szeghy ihr Werk als «eine ruhig fliessende, aber dennoch expressive Meditation mit ein paar kleinen Steigerungen». Dynamisch sehr zurückgenommen, das Stück beginnt im dreifachen Piano und endet ebenso leise sind es auch hier die verhaltenen Töne, die vorherrschen. Der Orchestersatz erscheint konzentriert, äusserst dicht gearbeitet mit einem stark polyphonen Liniengeflecht, das den Fluss der melodischen Linie nie überdeckt, sondern meist zart und einfühlsam kontrapunktiert.
Bewegende Uraufführung
Ursprünglich sollte bei Lucerne Festival ihr 2018 vollendetes Requiem für Solisten, gemischten Chor und Orchester zur Uraufführung kommen, ihre bislang umfangreichste Komposition. Doch da pandemiebedingt auf den Einsatz von Chören verzichtet werden muss, hat Szeghy den vierten Satz, das Offertorium, zu einem selbständigen Werk ausgearbeitet. Das Stück basiert auf einem Gedicht von Emily Dickinson, das die Botschaft des herkömmlichen Offertoriums aus der lateinischen Totenmesse gewissermassen auf den Kopf stellt. Wird dort um den Schutz der Seele eines Verstorbenen gebeten, so beschreibt die amerikanische Dichterin dagegen eine Situation von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit: den erfolglosen Versuch, bei Jesus Aufnahme zu finden.
Fast schon eine sakrale Darbietung
Die Sopranistin intonierte das feierliche Werk äusserst einfühlsam, streichelte die Noten sanft mit ihrem weichen Timbre, ohne dabei energielos zu wirken. Das relativ gross besetzte Orchester unterstützte sie dabei sehr zurückhaltend und behutsam, unter dem diskreten Dirigat ihres tschechischen Leiters. Das Auditorium belohnt dieses fast sakrale Tongemälde mit ausgiebigem Applaus und Bravorufen, den auch die auf die Bühne geholte Komponistin geniessen durfte.
Beat Furrer Konzert für Violine und Orchester Schweizer Erstaufführung
Der gebürtige Schaffhauser Furrer nennt sein komponieren: ‹Musik denken›. Klang ist natürlich ein physisches Ereignis, es gibt eine konkrete Vorstellung von Klang. Aber es gibt eben auch ein Denken darüber, den Versuch, das zu fassen. Und Denken geschieht ja mittels der Sprache. Das ist ein Grenzbereich. Furrer weiter: ‹Musik denken› ist vielleicht etwas zwischen formal logischem Denken und Klang erleben. Ich glaube, das ausgetüfteltste formale Konzept wäre ohne das physische Erfahren von Klang völlig wertlos.» Doch auch Stille hat bei Furrer ihren Platz: «Jedes Verklingen eines Tones ist bereits ein Drama für sich», erklärt er. Dieses Erfahren von Klang ist für Furrer allerdings keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Innehalten, Nachhorchen, Neuansetzen, Verharren — das sind typische Verfahrensweisen in seinem Umgang mit musikalischem Material.
Komposition für den Geiger Ilya Gringolts
Dieses Werk schuf Furrer für den Solisten Ilya Gringolts, der es zusammen mit dem Münchener Kammerorchester am 15. Oktober 2020 im Prinzregententheater unter der Leitung von Clemens Schuldt in der bayerischen Hauptstadt uraufführte.
Der erste, zehnminütige Satz besitzt eine Bogenform, die vom Nahezu-Stillstand und einem harmonischen Schweben mit einer faszinierenden, oftmals geräuschhaften Struktur in die Getragenheit zurückkehrt, während der Mittelteil der Geige bewegte, fast „klassische“ Figurationen erlaubt, die beinahe erzählerischen Charakter besitzen. Der siebenminütige zweite Satz ist eine vielfältig schillernde, ungemein spannende Eruption, und die letzten drei Minuten haben die Funktion einer Coda.
Jeder Ton, jede Harmonie, alles Mikrotonale und jedes Glissando haben in diesem Werk seinen exakten Platz. Die Präzision und Intensität, mit der die Bamberger und der technisch wie musikalisch absolut souveräne Ilya Gringolts die Partitur durch-leuchten und zum Ereignis machen, lässt dem Hörer keinen Augenblick des Abschweifens. So unmittelbar und zwingend muss zeitgenössische Musik sein.
Die ungewohnten Töne irritierten zwar etwas das harmoniesüchtige Musikgehirn der meisten Zuhörer, denen Mozart doch näher ist als etwa Schönberg oder Stockhausen, aber der furiose Applaus und viele Bravorufe bezeugten, dass das Auditorium sehr wohl auch «neue» Musik zu schätzen und würdigen weiss. Auch Komponist Beat Furrer betrat die Bühne und wurde klatschend gefeiert.
Miroslav Srnka move 01-04 für Orchester. Erste Gesamtaufführung aller bestehenden Teile (move 01-03 in revidierten Fassungen, Erstaufführungen)
«In moves», so Srnka, «verfolge ich das Konzept eines organischen Klangstroms in einem raffiniert kontrollierten Strukturnetz, das auf einer Kurve aus der Vektorbeschreibung basiert, die von den französischen Mathematikern Pierre Bézier und Paul de Casteljau für das Design französischer Autokarosserien entwickelt wurde.
Näheres zum Komponisten
Seine Oper South Pole, uraufgeführt 2016 an der Bayerischen Staatsoper München unter Kirill Petrenko, inszeniert von Hans Neuenfels und mit Rolando Villazón und Thomas Hampson in den Titelrollen, brachte Miroslav Srnka den internationalen Durchbruch. Bereits zuvor wurde er mit bedeutenden Kompositionsaufträgen und Preisen, u.a. dem Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung 2009, ausgezeichnet
Bewegung deutet der Prager Komponist in seinem vierteiligen Werk nicht nur musikalisch, sondern auch physisch – als Spielbewegung der Musiker. Die Struktur für ein Werk müsse sich ein Komponist heute selbst vorgeben, sagt Srnka.
Die Doppeldeutigkeit von «move», also Bewegung, erläutert er so: «Die erste Deutung liegt in der Bewegung als Struktur: Mit musikalischen Mitteln, beispielsweise mit der Gestalt eines polyphonen Schwarms, wird eine bewegte, changierende dreidimensionale Struktur suggeriert, die etwa an Vogelschwärme erinnert. Die zweite Deutung bezieht sich auf die Bewegungen der Musiker*innen, mit denen sie physisch den Klang erzeugen.»
Die Partitur lässt das Orchester akustische Vogelschwärme unorthodox durch den Saal schwirren, vielschichtig und ungeordnet, aber nicht disziplinlos. Eine äusserst eigenwillige, spannende Komposition, fernab ausgetrampelter, konventioneller und traditioneller Vorgaben. Jakub Hrůša dirigierte das Werk ganz im Sinne des Komponisten, mit vollem Körpereinsatz und totaler Emotionalität, was besonders beim Finale durchschlug.
Ich kenne kein anderes zeitgenössisches Werk, das auch nur annähernd ein solch dramatisches, aufwühlendes Finale hat. Das war ein ununterbrochenes tonales Petting, das in einem akustischen Orgasmus explodierte. Dirigent Jakub Hrůša liess sich ungehemmt mitreissen, juckte und sprang auf seinem Podium auf und ab.
Dass zeitgenössische Musik, so souverän vorgetragen, begeistert, bezeugten, nebst dem stürmischen Applaus jeweils am Ende der Werke, auch die Bravorufe, die ebendiese garnierten.
https://www.facebook.com/lucernefestival/videos/4050762635051289
Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch Peter Fischli und Priska Ketterer
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