City of Birmingham Symphony Orchestra Mirga Gražinyte˙ -Tyla, Leitung – Gabriela Montero, Klavier, KKL Luzern, 22. Mai 2022. besucht von Léonard Wüst

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City of Birmingham Symphony Orchestra

Besetzung und Programm:
City of Birmingham Symphony Orchestra
Gabriela Montero – Klavier
Mirga Gražinyte -Tyla – Leitung

Peter Tschaikowski Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 (ca. 35’)
Allegro non troppo e molto maestoso
Andantino semplice — Prestissimo
Allegro con fuoco
Anton Bruckner Sinfonie Nr. 6 A-Dur (ca. 55’)
Majestoso
Adagio. Sehr feierlich
Scherzo. Nicht schnell — Trio. Langsam
Finale. Bewegt, doch nicht zu schnell

Infos zu den beiden Damen, den Hauptfiguren dieses Konzertes

Geradezu atemberaubend verläuft die Karriere von Mirga Gražinytė-Tyla: Mit 29 wurde sie Chefdirigentin in Birmingham, als Nachfolgerin von Rattle, Oramo & Co. Schon etwas länger ist Gabriela Montero im Geschäft – die Frau, die für ihre fulminanten Klavierimprovisationen geliebt wird.

Tschaikowski Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23

Grundsätzliches zur Komposition:

Wie man sich täuschen kann … Als Peter Tschaikowski seinem Freund und Mentor Nikolai Rubinstein Ende 1874 das Klavierkonzert b-Moll präsentierte, bezeichnete dieser das neue Werk als trivial und vulgär und riet zu Änderungen. Der konsternierte Tschaikowski wandte sich daraufhin an einen anderen Pianisten, Hans von Bülow, der das Stück mit grossem Erfolg zur Uraufführung brachte. Heute zählt das b-Moll-Konzert zu den berühmtesten romantischen Klavierkonzerten überhaupt.

Das markante dieses Tscvhaikowski Werkes liegt in erster Linie an dem berühmten Anfangsthema, jener schwelgerischen Geigenmelodie, die das Klavier mit mächtigen Akkorden rahmt – ein echter Ohrwurm. Das Interessante dabei: Es handelt sich hier «bloss» um die Einleitung zum ersten Satz; im schnellen Hauptteil kehrt das Thema nicht wieder. Und auch sonst hält Tschaikowski so manche Überraschung parat. Etwa wenn in die Melancholie und Selbstvergessenheit des zweiten Satzes ein freches französisches Chanson platzt. Oder wenn er das Finale mit einem stampfenden ukrainischen Tanz eröffnet, der sofort in seinen Bann zieht.

Ein solcher Rückgriff auf die Volksmusik seiner Heimat (es ist nicht der einzige in diesem Konzert) zeigt, was Tschaikowski hier anstrebte: die zentraleuropäisch geprägte Gattung Klavierkonzert um einen ursprünglich russischen Beitrag zu bereichern. Im Westen kam das nicht überall gut an; der gefürchtete Wiener Kritiker Hanslick etwa rümpfte über die «Kosakenlustigkeit» des Stücks die Nase. Beim Publikum setzte sich das b-Moll-Konzert jedoch rasch durch, und sogar Nikolai Rubinstein revidierte sein ursprüngliches Urteil und übernahm bei etlichen Aufführungen den Solopart.

Zur Interpretation:

Gabriela Montero hochkonzentriert

Gabriela Montero agiert vor allem in den Überleitungen pianistisch vollgriffig brillant, immer wieder aber auch lyrisch schwelgerisch. Die Durchführung verzahnt zunächst im Orchesterspiel das erste und das dritte Thema, ehe das Klavier mit donnernden Oktavketten übernimmt und über zweites und erstes Thema „frei phantasiert“, schließlich auch im Wechselspiel mit dem Orchester, ehe das erste und das dritte Thema, um die Vorherrschaft streitend, zur Reprise führen. Die ausgeschriebene Klavierkadenz bietet weitere Metamorphosen der drei Themen, bis die Coda des ersten Satzes mit dem dritten Thema ansetzt und der Satz effektvoll abgerundet wird.

Eine träumerische Melodie, von der Solistin schwelgerisch, nicht aber süss interpretiert,  prägt den zweiten Satz, ein Andantino semplice, zuerst erklingt die Melodie von der Flöte gespielt, dann übernimmt das Klavier, und das Geschehen wird in Sechzehntel Girlanden weitergesponnen. Völlig überraschend bricht ein irrwitzig filigran-virtuoses Prestissimo in den Satz, spukhaft rasch, fast wie ein verkapptes Scherzo, sanft aber heftig treibend, bis eine Klavierkadenz zur träumerischen Melodie zurückführt, die Montero fein ziseliert und so  den Satz feinfühlig zu Ende führt.

Die temperamentvolle Dirigenti Mirga Gražinyte Tyla

Drei Themen auch im dritten Satz, Allegro con fuoco – das erste ein Höllenritt, intoniert von der südamerikanischen Pianistin dämonisch kraftvoll, dennoch düster. Das zweite ein übermütig enthusiastisches Volksfest, bei dem sich die Pianistin zur schalkhaft -lustigen Musikantin wandelte, das dritte ein ganz großer Melodiebogen, voluminös nachgezeichnet von Montero, die sich zum Ende hin „freikämpft“ und mit einer alles überstrahlen wollenden Apotheose triumphiert. Wunderbar, dass sich die Pianistin sehr sparsam des Pedals bediente und somit die Variationen immer gestochen scharf und nie verschwommen daherkamen, wenn auch alles etwas brachial, manchmal zu kantig. Es war eine atemberaubende Interpretation, wahnwitziger Tastendonner, aberwitzig virtuos, und wo es ruhiger zugeht, zeigt sich Gabriela Montero als große, souveräne Gestalterin, getragen von einem grossartigen Orchester unter engagierter Leitung von Mirga Gražinyte. Klar bediente diese Umsetzung des Tschaikowski Klassikers sämtliche Clichées russischer Musik Seele, aber genau dies schien dem Auditorium im sehr gut besetzten Konzertsaal zu gefallen. Dies manifestierte sich in einer wahren Applauskaskade, die die Solistin und die litauische Dirigentin mehrere Male zurück auf die Bühne beorderte

Gabriela Montero Foto Anders Brogaard

Gabriela Montero brilliert ja häufig mit Improvisationen über eine Melodie, die ihr jeweils von jemandem aus dem Publikum zugerufen wird Das war auch hier und jetzt nicht anders und so servierte uns die Venezolanerin als Zugabe eine sehr lange Improvisation über Maurice Ravels «Bolero».

Anton Bruckner Sinfonie Nr. 6 A-Dur

Mirga Gražinyte -Tyla zeigt wos lang geht

Keck“ und „kühn“: Solche Attribute wird man für eine Sinfonie von Anton Bruckner eher nicht in Anschlag bringen. Aber der Komponist hat das selbst getan, und zwar mit Blick auf seine Sechste, die tatsächlich eine Sonderstellung im sinfonischen Bruckner-Kosmos einnimmt. Romantisches Pathos, sakrale Andacht und kontrapunktische Meisterschaft, Kennzeichen der Vorgängerwerke, werden weitgehend vermieden, vom typischen Hineinhorchen in den Klang ist keine Rede. Selbst die Grundtonart A-Dur kommt bei Bruckner selten vor.

Vielmehr wirkt die Sechste wie der sinfonische Gegenentwurf zur monumentalen, hochpathetischen Fünften. Deutlich zupackender, geerdeter kommt sie daher, aber auch kantiger, voll musikalischer Kontraste. Auf das Strahlen des 1. Satzes folgt ein Adagio mit Trauermarsch, auf ein ruppiges Scherzo das festliche Finale. Hat Bruckner sich sinfonisch neu erfinden wollen?

Nun, vielleicht liegt der Grund näher, quasi vor der Haustür. Nach Vollendung der Fünften (1876) dauerte es drei Jahre, bis sich Bruckner wieder an ein Sinfonieprojekt wagte. Im Sommer 1880 unternahm er eine Urlaubsreise, ging gleich nach der Rückkehr erneut ans Werk und beendete die Komposition binnen Jahresfrist. Diese Reise – die längste seines Lebens – führte ihn u.a. durch die Schweiz. Schlugen sich die Eindrücke von unterwegs in der Sechsten nieder? Es gibt Interpret*innen, die das nicht ausschliessen. Dann wäre die direktere Sprache dieser Sinfonie mit ihren Hell-Dunkel-Kontrasten, dem Wechsel zwischen weichen und schroffen Passagen Ausdruck einer ganz konkreten Lebens- und Naturerfahrung.

Zur Interpretation durch die Birminghamer

Dirigentin Mirga Gražinyte -Tyla will immer hoch hinauf

Der 1. Satz, das „Majestoso“ wurde dem Namen entsprechend geboten, schlicht und einfach grandios majestätisch, wenn auch etwas sehr laut.

Das „Adagio“ des 2. Satzes berührend ans Herz klopfend, da hatte die Litauerin am Pult die Lautstärke wohltuend zurückgenommen.

Das „Scherzo“ des 3. Satzes genau richtig im Tempo, die optimale Spannung aufbauend für den abschliessenden 4. Satz, folgerichtig als „Finale“ (bewegt, doch nicht zu schnell), betitelt.

Die ganze „Sechste“ kam wunderschön wogend, wo gefragt auch furios glorifizierend und berauschend daher, Bruckners Gedanken perfekt umgesetzt und interpretiert.

Nebenbei: was mir bis anhin auch noch nie aufgefallen war:

Leonard Bernstein verwendete (plagiierte) wahrscheinlich ein Bläsermotiv des zweiten Satzes für sein „Somewhere“ in der „West Side Story“, präziser: bei der Textpassage „There`s a Place for us, somewhere a Place for us“.

Fazit: besser geht Bruckner fast nicht, beeindruckend berührend und aufwühlend, dann wieder versöhnlich besänftigend, nicht kirchlich mystifiziert sondern erstaunlich weltlich und aktuell. Das Publikum sichtlich gerührt und ergriffen ob der grandiosen Darbietung spendete den Applaus langanhaltend respektvoll aber nicht überbordend, ein Applaus, der schlussendlich in eine stehende Ovation mündete. Eine weitere Perle in der Kette der Kulturprozent Classics.

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: Ute Witassek und  http://www.migros-kulturprozent-classics.ch/  

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Die Solistin, die Dirigentin und das Orchester geniessen den langanhaltenden Applaus