Zeit, beziehungsweise das Gefühl für Zeit, ist relativ. Deshalb kann das Konzept der Vertrauensarbeits-zeit nicht funktionieren, denn kein Unternehmen kann von den Mitarbeitern verlangen, die verein-barte Arbeitszeit nach Gefühl einzuhalten. Zeiterfassungssysteme schaffen Vertrauen – und zwar so-wohl für das Unternehmen wie auch für den Mitarbeiter.
Das Wichtigste im Leben für jeden Menschen ist seine Zeit. Die Stunden seines Lebens sind für jeden Menschen ein ganz persönlicher und wertvoller Besitz, mit dem er bewusst, zielgerichtet und sorg-sam umgehen will. Auch Menschen, die gerne arbeiten, wünschen sich hin und wieder Urlaub. Und auch sie müssen sich mit den Rhythmen der Planeten koordinieren und synchronisieren. Menschen brauchen regelmässig Schlaf und Pausen, um sich zu erholen und zu regenerieren. Zum Schutz vor Übermüdung schaffen Menschen Arbeitsgesetze, in denen minimale Vorschriften zur Erreichung der Erholung formuliert sind.
Zeit ist relativ
Von der Natur her haben Menschen keinen objektiven Massstab für die Zeitmessung. Ohne Uhren und Kalender ist es für den Menschen kaum möglich, Zeit exakt zu messen. Wenn wir eine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit – egal ob Vollzeit oder Teilzeit – einhalten sollen, dann kann uns unser Zeitge-fühl sehr täuschen. Ein Arbeitstag kann im Flug vergehen, ein anderer erscheint uns unverhältnismäs-sig lang. Diese nicht enden wollenden Arbeitstage erleben Menschen beispielsweise dann, wenn am Vortag Karneval war – egal ob in Köln, Basel oder Luzern. Oder aber, wenn am Abend ein lang er-sehntes Konzert oder der Abflug in die Ferien auf uns wartet. Diese Beispiele sollen illustrieren, dass Zeit für den Menschen tatsächlich relativ ist. Albert Einstein hat dies treffend formuliert: „Wenn man zwei Stunden lang mit einem netten Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute auf einem heissen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden.
Diese Relativität im Zeitgefühl kennen alle Menschen. Egal ob bei einer Pfadfinderübung, in der Pri-marschule, beim Militärdienst oder bei der Arbeit. Wie schnell oder eben langsam die Zeit vergeht, empfindet jeder Mensch anders. Und zwar je nach persönlichem Wohlbefinden, der Tätigkeit, der er sich gerade widmet, oder anderen Umwelteinflüssen. Dies hat zur Folge, dass es sich auch mit dem besten Selbstvertrauen niemand zutrauen kann, nach Gefühl zu wissen, ob er die vertraglich verein-barte Arbeitszeit erreicht hat – oder nicht. Dies gilt erst recht dann, wenn jemand sehr flexibel und Teilzeit arbeitet.
Natürlich würden sich Arbeitgeber wünschen, dass die Mitarbeiter ihre Arbeit mit so viel Freude aus-üben, dass sie das Zeitgefühl vergessen und aus purer Freude am sinnvollen Tun ein Maximum an Ar-beit erledigen. Weil nun aber Menschen keine Roboter sind, ist dies ein Ding der Unmöglichkeit. Und wenn man ganz ehrlich ist: Sogar Roboter benötigen Wartungszeit. Genauso wie Menschen wie be-reits erwähnt Zeit für Erholung und Regeneration benötigen.
Vertrauensarbeitszeit: guter Begriff, falsch verwendet
Der Begriff Vertrauensarbeitszeit wurde durch die Firma ABB geprägt, die im Jahr 1995 das Abschaf-fen der Stempeluhren propagierte. Aus den einleitenden Schilderungen darf man nun allerdings ab-leiten, dass dieser Begriff eine praxisfremde Worthülse ist. Unternehmen würden Ihre Mitarbeiten-den überfordern, wenn sie mit ihnen eine bestimmte Anzahl Stunden Arbeitszeit pro Woche, Monat oder Jahr vereinbaren und gleichzeitig verlangen, die vereinbarte Arbeitszeit nach Gefühl einzuhal-ten. Vertrauensarbeitszeit ist deshalb dann gegeben, wenn die Unternehmen ihren Mitarbeitenden vertrauen, dass sie ihre Arbeitszeiten ehrlich registrieren und mit einem Zeiterfassungssystem abrechnen. Nur mit einem solchen System können die Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten effizient abrechnen. Zeiterfassung ist also nicht ausschliesslich als Instrument der Fremdkontrolle zu betrachten. So wie der Autofahrer zum Überprüfen der einzuhaltenden Geschwindigkeit einen Tachometer benötigt, braucht der Mitarbeiter ein Zeiterfassungssystem. Es hilft ihm zu überprüfen, ob sein Gefühl in Bezug auf die geleistete Arbeitszeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Arbeitszeiterfassung wird leider oftmals zu wenig als Schutz der Mitarbeitenden verstanden. Richtig eingesetzt kann man durch die Arbeitszeiterfassung nämlich Überbelastungen frühzeitig erkennen und es können Massnahmen zur Entlastung eingeleitet werden. Der von der ABB verwendete Begriff «Vertrauensarbeitszeit» müsste eigentlich «Gefühlsarbeitszeit» heissen. Würde dieser Begriff verwendet, dann könnte jeder Laie erkennen, wie absurd die Diskussion um die Vertrauensarbeitszeit ist, die wir seit 20 Jahren führen.
Unternehmen ohne Zeiterfassung schaffen Misstrauen
Perspektivenwechsel weg vom einzelnen Menschen hin zu einem Team: Jeder, der einmal in der Pri-marschule war weiss, dass Menschen ganz unterschiedlich leistungsfähig sind. Und Menschen sind auch ganz unterschiedlich leistungsbereit. Hoch motivierte Schüler erledigen ihre Hausaufgaben ohne Murren und ohne jede Kontrolle durch den Lehrer. Weniger motivierte tun dies mit Widerwil-len oder gar nicht. Und so ist es auch in einem Team. Eine dauerhaft menschliche Arbeitswelt erfor-dert, dass alle Menschen zur Schule gehen dürfen und sich später auch in der Arbeitswelt mit einer sinnvollen und frei wählbaren Berufstätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Um sowohl hoch mo-tivierten Menschen als auch Minimalisten einen Arbeitsplatz anzubieten, braucht es die Arbeits-zeiterfassung. Verzichtet ein Unternehmen auf die Arbeitseiterfassung, dann entsteht das Gegenteil von Vertrauen. Es entsteht Misstrauen. Man verdächtigt sich gegenseitig, zu wenig zu arbeiten. Dazu folgendes Beispiel: Frau XY ist sehr leistungsbereit, fühlt sich aber beobachtet. Sie arbeitet lieber ein paar Stunden mehr, um die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit ganz sicher einzuhalten. Geht sie Frei-tagabend um 16.00 Uhr nach Hause, fühlt sie sich unwohl. Ausgerechnet Herr Z, von dem sie selbst glaubt, dass er es mit seiner Arbeitszeit etwas gar locker nimmt, schaut ihr – so glaubt sie zumindest – prüfend hintennach. Dieses Misstrauen setzt Frau XY unter Druck und so arbeitet sie Woche für Woche mehr Stunden als nötig. Ihr Energiehaushalt kommt ins Wanken. Sie fühlt sich ausgebeutet.
Es gibt Unternehmen, die dann die Meinung vertreten, Leistungsziele seien die Lösung. Im Arbeits-vertrag lässt man die zu leistende Arbeitszeit weg und misst die Leistung der Mitarbeitenden einzig und alleine an der Erreichung ihrer Ziele. Jeder soll halt so viel arbeiten, dass er seine Arbeit erledigt hat. Das würde jedoch zu prekären Arbeitsverhältnissen führen, die so vermutlich nicht eingegangen werden können. Wer entscheidet zum Beispiel bei einer administrativen oder kreativen Tätigkeit, ob das Arbeitsergebnis erreicht ist – oder nicht?
Alle Menschen sollen in der Arbeitswelt Platz haben
In der Arbeitswelt geht es wie im übrigen Leben darum, dass alle Menschen in der Gesellschaft inte-griert sind: Die hoch motivierten und die Minimalisten. Die Hochbegabten und die weniger begabten. Die Hocheffizienten und die weniger Effizienten. Die Superkreativen und die weniger Kreativen. Die Uhr ist unter diesen Umständen das objektivste Messinstrument überhaupt.
Wie Menschen sich die Arbeit teilen, dafür nehmen sie als Gradmesser sinnvollerweise die Uhren. Die Zeit ist das am gerechtesten verteilte Gut der Erde. Alle Menschen erhalten von der Natur täglich gleich viel davon. Nicht alle Menschen haben jedoch intellektuell oder vom Körperbau her die glei-chen Voraussetzungen zur Arbeit. Wenn es um eine gerechte Arbeitsteilung und um vertrauensvolle
Arbeitsbeziehungen geht, dann kann die Uhrzeit, und zwar nicht die gefühlte oder die vereinbarte, sondern die tatsächlich gemessene Arbeitszeit eine wichtige Grundlage bieten.
Will ein Unternehmen die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft ihrer Mitar-beitenden belohnen, dann kann dies ganz einfach über eine Leistungsvereinbarung und dem damit verbundenen Leistungslohn erfolgen. Im Grundlohn wird berücksichtigt, in welcher Funktionsstufe der Mitarbeiter im Unternehmen eingebettet ist. Mit diesem Grundlohn verbunden wird eine Sollar-beitszeit festgelegt. Je höher der Lohn, desto höher darf auch die Sollarbeitszeit sein. Es ist einsichtig, dass jemand mit einem Grundlohn von 50’000 Franken weniger Sollarbeitszeit leisten muss als je-mand mit einem Grundlohn von 500’000 Franken. Wie viele Stunden ein Arbeitnehmer leisten soll, der 500’000 verdient, soll jeder nach seinem eige-nen Empfinden beurteilen. Aber im Zusammenhang mit der Managerlohndebatte könnte man sich durchaus vorstellen, dass Managern mit einem derartigen Lohnniveau durchaus zuzumuten wäre, dass sie eine Sollarbeitszeit von 60 Stunden für diesen Lohn vereinbaren und diesen auch mit einem Zeiterfassungssystem abrechnen. Das Gleiche wird ja auch von Menschen verlangt, die für 30’000 Franken 42 Stunden ihrer Lebenswoche für ihre Erwerbsarbeitszeit einsetzte. Hier zeigt sich eine wei-tere Nuance: Man kann die Diskussion um die Arbeitszeiterfassung und die Sollarbeitszeiten nicht gänzlich von der Lohnfrage entkoppeln. Die Eigenzeit jedes Einzelnen ist für ihn ganz persönlich sein ganzes Leben. Deshalb ist es niemandem egal, für wie viel Zeit wie viel Lohn vereinbart wird. Wer viel Zeit in die Arbeit investiert, will auch gut von seiner Arbeit leben können. Wer eine tiefe Wochenar-beitszeit oder Teilzeit vereinbart, hat eine höhere Lebensqualität und ist bereit dafür auf Einkommen zu verzichten.
clinicum Vernehmlassung ArV1Autor: Ivo Muri ist Zeitforscher und Gründer der Zeit AG mit Sitz in Sursee www.zeitag.ch[content_block id=29782 slug=ena-banner]