Es gibt zwei Gründe, weshalb die Schweiz an den Paralympics keine Grossmacht mehr ist. Erstens gab es eine goldene Generation. Heinz Frei, Franz Nietlispach, Edith Hunkeler, Giusi Forni, Urs Kolly, ich selbst und weitere Cracks holten Medaillen gleich serienweise. Eine solche Häufung von Top-Athleten ist selten. Zweitens ist die Schweiz – zum Glück – ein schlechtes Rekrutierungsland für Behindertensportler.
Das liegt daran, dass die Schweiz keinen Krieg und kaum Katastrophen erleben muss. Schuss- und Explosionsopfer gibt es bei uns kaum. Hinzu kommt die hohe Arbeitssicherheit und Unfallprävention. Unsere Neutralitätspolitik sowie die Suva und die Beratungsstelle für Unfallverhütung sind gewissermassen die natürlichen Feinde eines tollen Medaillenspiegels an den Paralympics. Was zynisch klingt, ist in Tat und Wahrheit ein grosser Segen und eine der ganz grossen Errungenschaften unseres Landes.
Dass unsere Vernunftsmentalität ein Karrierehemmer für Spitzensport ist, geht oft vergessen. Wer sich zwischen einem soliden und planbaren Weg in einer klassischen Berufskarriere einerseits und einer unsicheren und kurzlebigen Sportkarriere andererseits entscheiden muss, wählt oft den vernünftigen Berufsweg. Vernunft und Spitzensport vertragen sich grundsätzlich schlecht.
Wahrnehmung vielfältiger als früher
Im Behindertensport waren einst die Rollstuhlathletinnen und -athleten im Fokus. Sie hatten an Top-Events wie Weltklasse Zürich schon früh eine Plattform. Das hat sich verlagert. Heute sind Beinamputierte wie Oskar Pistorius und Markus Rehm ebenso bekannt. Das hat auch mit dramatischen Geschichten und fragwürdigen Forderungen zu tun. Der eine steht wegen privaten Querelen im Rampenlicht. Der andere will per Gerichtsbeschluss unbedingt bei den Spielen der Nichtbehinderten mitmachen, weil er mit Katapult-Prothese weiter springt als Nichtbehinderte. Das wirft Fragen auf, die nicht leicht zu beantworten sind.
Dass die Paralympics mehr sind als messbare Leistungen, liegt in der Natur dieser komplexen Sportbewegung. Es geht um hoch entwickelte Technik und teures Material. Eine Top-Sportprothese kostet über 10 000 Franken. Es braucht aber nicht nur Geld, sondern auch Know-how, gut ausgebildetes Fachpersonal und Infrastruktur. Die internationale Chancengleichheit im Behindertensport ist, ähnlich wie beim gewöhnlichen Sport, aufgrund der Wohlstandsverteilung nicht gegeben. Auch das wird kontrovers diskutiert.
Sonderfall USA
Behindertensport wird in jedem Land anders behandelt. Australien beispielsweise unterstützt die Paralympians mit Lohnausgleich und Förderprogrammen grosszügig. Profitum ist dort etabliert. In anderen Ländern wie der Schweiz, Deutschland, oder Skandinavien ist die Verbandsarbeit auf professionellem Niveau. England und China haben seit den Paralympics 2012 ebenfalls massiv aufgerüstet. Das zeigt auch der Medaillenspiegel.
In Drittwelt- und Schwellenländern wiederum haben die Paralympians, neben dem Handicap, auch noch mit Armut zu kämpfen. Was Athletinnen und Athleten dort mit mentaler Stärke und innerem Feuer bewirken, ist grandios und verdient grössten Respekt. Und es zeigt das grosse Potenzial, das nicht behinderte Sportlerinnen und Sportler diesbezüglich oft ungenutzt lassen. Darin liegt deren grösstes Handicap gegenüber den Paralympians!
Toller Nachwuchs dank Militär
Amerika hat den grössten Fundus an Nachwuchsathleten. Der Grund liegt im Militärwesen. Viele werden dort verwundet. Sie werden Amputierte und Rollstuhlgebundene, oft mit starker Physis und Wettkampferfahrung der extremen Art. John Register, ein ehemaliger Konkurrent und heutiger Freund von mir, arbeitet als Motivations-Trainer und Paralypmics-Scout mit amerikanischen Kriegsopfern. Er selbst verlor im Militär sein Bein. Er berichtet, dass amerikanischen Paralympians ihre Sponsoren zwar selbst suchen müssen. Aber US-Firmen sind bereit, grosse Unterstützung zu leisten. Da hinkt die Schweiz buchstäblich hinterher.
Know-how und Kompetenz von Schweizer Fachleuten des Behindertensports werden international auch ohne Medaillensegen hoch geschätzt. Den im Grunde wertvollen Nachteil von Neutralität und Unfall-Prävention gleichen Machertum und Engagement wieder aus. Was in der Schweiz an knappen Ressourcen durch Professionalität herausgeholt wird, ist hervorragend. Diesbezüglich ist die Schweizer Mentalität im übertragenen Sinne Gold wert. Das zählt viel, auch ohne Medaillen.
Lukas Christen
Der 50-jährige Lukas Christen ist ehemaliger Behindertensportler aus Sempach. Er gewann mehrere Paralympics und Weltmeisterschaften über 100 m, 200 m und im Weitsprung der Oberschenkelamputierten. Er arbeitet als selbstständiger Management-Trainer und Coach in der Wirtschaft und im Sport.
Quelle: Aargauer Zeitung[content_block id=29782 slug=ena-banner]