Geschichte des Heimwesens in der Schweiz: überforderte Gemeinden und fehlende Kontrolle

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Das Finanzierungssystem von Kinder- und Jugendheimen in der Schweiz ist aufgrund des Föderalismus heterogen und komplex, blieb aber in der historischen Aufarbeitung weitgehend unbeleuchtet. Eine Studie der Hochschule Luzern und der Universität Zürich hat die Kinder- und Jugendfürsorge seit 1940 aus einer wirtschaftshistorischen Perspektive untersucht und Empfehlungen für den modernen Sozialstaat abgeleitet.

Heute kann eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) unter bestimmten Voraussetzungen die Unterbringung von Kindern oder Jugendlichen in einer geeigneten Institution anordnen. Überforderte Eltern können eine Fremdplatzierung auch aus eigenem Willen beantragen. Die KESB sind kantonal oder interkommunal organisiert.

Historisch lag diese Verantwortung jedoch lange bei den Gemeinden und den dazugehörigen Vormundschaftsbehörden. Das Heimwesen war Teil der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – dem Instrument der kommunalen Behörden zur Disziplinierung oder Bestrafung von jenen Menschen, die von der «gesellschaftlichen Norm» abwichen. Dazu zählt die administrative Versorgung von beispielsweise Alkoholsüchtigen oder «liederlichen» Frauen, die Verdingung oder eben die Einweisung von «schwererziehbaren» Kindern oder Jugendlichen in ein Kinderheim. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen haben in den vergangenen Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in der historischen Aufarbeitung erfahren. In einer Studie nimmt sich die Hochschule Luzern (HSLU) gemeinsam mit der Universität Zürich einer grösseren Forschungslücke an und untersucht das Heimwesen aus einer wirtschaftshistorischen Perspektive.

Gemeinden mit Heimwesen komplett überfordert

«Eine Untersuchung des Finanzierungswesens von Kinder- und Jugendheimen ist deshalb wichtig, weil sie gleichzeitig eine Untersuchung von Steuerungs- und Kontrollfunktionen ist», sagt Co-Studienautor und Experte für Sozialpolitik Dr. Alan Canonica. Denn Subventionen sind in der Regel mit bestimmten Erwartungen an eine professionelle Leistungserbringung verbunden. Fehlen die Subventionen, fehlen oft auch Möglichkeiten zur Steuerung und Kontrolle.

Und genau solche Subventionen gab es im Heimwesen bis mindestens in die 1960er Jahre kaum. Die Gemeinden waren auf sich selbst gestellt. Entsprechend war die finanzielle Situation der Heime gemäss Canonica vollkommen unzureichend. Kontrollen waren kaum vorhanden oder gar inexistent. «Auf die fremdplatzierten Kinder und Jugendlichen hatte dies weitreichende negative Auswirkungen», so der Sozialhistoriker. Viele der bekannten Missstände seien auf die starke Fragmentierung des Unterstützungssystems und die hohe Verantwortung der Gemeinden zurückzuführen.

Mehr Steuerung durch Subventionen

Ab den 1960er Jahren verstärkten Bund und Kantone aufgrund mehrerer Gesetzesreformen ihre Sozialausgaben [Abb. 1 im Anhang]. Diese allgemeine Entwicklung zeigt sich auch bei der Unterstützung der Heime. Durch die höheren finanziellen Beiträge übernahmen Bund und Kantone zunehmend Steuerungs- und Kontrollfunktionen: Erstmals stellen sie beispielsweise Anforderungen betreffend Personal, Infrastruktur oder Finanzplanung. Die Qualität in den Heimen verbesserte sich markant.

Abbildung 1: Der starke und kontinuierliche Anstieg der Sozialausgaben ab den 1960er Jahren zeigt, wie Bund und Kantone vermehrt die Gemeinden in sozialen Belangen unterstützten. Dies wirkte sich auch aufs Heimwesen aus: Durch die höheren finanziellen Beiträge übernahmen Bund und Kantone zunehmend Steuerungs- und Kontrollfunktionen.

Die Subventionen hatten einen weiteren Nebeneffekt: Je weniger eigene Mittel die Heime beispielsweise in Infrastruktur investieren mussten, desto mehr Geld stand ihnen für besser qualifiziertes Personal zur Verfügung. Wenig überraschend verschoben sich deshalb die einzelnen Ausgabekategorien, sodass heute die Personalkosten mit Abstand den grössten Kostenpunkt für Heime darstellen.

Zentralisation vs. Gemeindeautonomie

 Naturgemäss waren die Unterschiede zwischen den Kantonen gross. Das Forschungsteam hat die Finanzierungssysteme dreier kontrastreicher Kantone genauer untersucht: das stark zentralistische Genf, der von hoher Gemeindeautonomie geprägte Kanton St. Gallen sowie das kleine und ländliche Uri.

«Die Kontraste aus der Theorie bestätigten sich auch in der Praxis», sagt Co-Autorin Susanne Weiss der UZH. Die Unterschiede seien bis heute sichtbar: In Genf verfügte der Kanton schon immer über weitreichendere Kompetenzen als beispielsweise in St. Gallen. In St. Gallen ist der kantonale Anteil an den Sozialausgaben noch heute viel tiefer als in Genf. Beide Kantone verfügten gemäss Weiss früh über ein ausgebautes Heimsystem. «Die finanzielle Verantwortung der Gemeinden ist in St. Gallen aber bis heute grösser», so die Historikerin.

Uri setzt auf ausserkantonale Platzierungen

 In Uri wiederum platzierte man die Minderjährigen mehrheitlich in anderen Kantonen. «Für den kleinen Bergkanton war die ausserkantonale Platzierung lukrativ. Es war günstiger, andere Kantone für die Unterbringung zu entschädigen und Beiträge an Infrastrukturprojekte zu bezahlen, als eigene Heime zu betreiben.», sagt Co-Studienautor Dr. Roland Fischer. Der Luzerner Nationalrat forscht und doziert an der HSLU als Experte für öffentliche Finanzen und Regionalökonomie. Diese Praxis währt bis heute: Die finanzielle Beteiligung des Kantons beschränkt sich in Uri überwiegend auf ausserkantonale Platzierungen.

Gerade bei ausserkantonalen Platzierungen war die Steuerung aber lange besonders schlecht. Erst interkantonale Vereinbarungen ab den 1980er Jahren brachten eine bessere Regulierung mit sich. Sie legten die Finanzierungsmodalitäten bei ausserkantonalen Platzierungen fest und beinhalteten zunehmend Anforderungen an die Heime.

Wurzeln bis heute sichtbar

 Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren zwar im damaligen Verständnis Teil des Sozialstaates, jedoch primär ein Werkzeug zur Disziplinierung oder Bestrafung. Diese Ursprünge sind bis heute verankert und sichtbar. So ist auf Bundesebene das Bundesamt für Justiz für Heime zuständig, auch, wenn es sich bei einer Einweisung nicht um einen Straf- und Massnahmenvollzug handelt. «Diese Zuständigkeit sollte überprüft werden», empfiehlt Canonica. «Bei Minderjährigen stehen nicht repressive, sondern präventiv-pädagogische Massnahmen im Vordergrund», sagt der Co-Studienautor.

Weiteren Handlungsbedarf sehen Canonica und Fischer bei der Pflegekinderverordnung (PAVO). Zwar wurde sie immer wieder revidiert, hat aber immer noch die Grundstruktur aus den 1970er Jahren. Heisst: Im Zentrum stehen die Angebote, nicht etwa die Bedürfnisse der Betroffenen. «Wir empfehlen eine Totalrevision der PAVO mit Fokus auf die Kinder und Jugendlichen mit ihren Rechten und ihrem individuellen Unterstützungsbedarf», hält Canonica fest.

Studie «Ökonomie des Heimwesens in der Schweiz seit 1940. Finanzierungs- und Steuerungsmodelle in der Kinder- und Jugendfürsorge»

Die Studie wurde im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und Zwang» (NFP76) durchgeführt.

Anhand von drei kontrastierenden Kantonen wurden die Finanzierungsmodi im Heimwesen auf der Bundes-, Kantons- und lokalen Ebene unter besonderer Berücksichtigung der föderalistischen Strukturen im schweizerischen Wohlfahrtsstaat untersucht. Gleichzeitig interessiert im Sinne einer gemischten Wohlfahrtsökonomie, welche Rolle sowohl staatliche als auch private Akteure bei der Finanzierung der Einrichtungen spielten.

Es handelt sich um ein interdisziplinäres Projekt der Departemente Soziale Arbeit und Wirtschaft der Hochschule Luzern sowie der Universität Zürich und beleuchtet die Thematik aus wirtschaftswissenschaftlicher und historischer Perspektive.

Mehr über das NFP76 finden Sie hier.[content_block id=45503 slug=unterstuetzen-sie-dieses-unabhaengige-onlineportal-mit-einem-ihnen-angesemmen-erscheinenden-beitrag]