Bern (ots) – Zunehmend entscheidet jeder für sich allein, was er glauben und praktizieren will. Die religiöse Wahlfreiheit setzt die Glaubensgemeinschaften unter Druck: Sie stehen in Konkurrenz zu säkularen Freizeitangeboten. Dies sind die Ergebnisse einer vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Studie, deren Schlussbericht nun in Buchform vorliegt.
Religionssoziologen aus Lausanne und aus St. Gallen haben die Religiosität und Spiritualität der Schweizer Bevölkerung vermessen. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58) haben sie die bisher umfangreichste Studie zu diesem Thema durchgeführt. Basierend auf einer repräsentativen Umfrage unter 1229 Personen, 73 Tiefeninterviews und einer Auswertung vieler weiterer Datenquellen legen Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger und Michael Krüggeler nun ihre Erkenntnisse in einem soeben erschienenen Buch (*) dar.
Unterschiedliche Gottesvorstellungen
Darin unterteilen die Forschenden die christliche religiös-spirituelle Landschaft in vier Typen mit ganz unterschiedlichen Glaubensvorstellungen: Über die Hälfte der Bevölkerung (57%) gehört zur Gruppe der Distanzierten, die gemäss den Religionssoziologen in Zukunft weiterhin wachsen wird. Die Institutionellen hingegen machen noch knapp einen Fünftel der Bevölkerung (18%) aus. Während die katholischen und reformierten Kerngemeinden schrumpfen, wachsen die charismatischen Freikirchen innerhalb der Institutionellen. Die Alternativen (13%) halten sich konstant, doch den Säkularen (12%) sagen die Forschenden langfristig ein deutliches Wachstum voraus.
Zwischen den vier Typen gibt es grosse Unterschiede, etwa in ihrem Verständnis von Begriffen wie «Gott». «Während Freikirchliche Gott als übernatürlichen Freund, Herrn und Wunderwirker sehen, erscheint er katholischen und reformierten Institutionellen als Mischung aus Vater-Mutter-Figur und transzendentem Psychoanalytiker. Alternative verstehen Gott meist als eine Licht-Kraft-Energie, während Distanzierte nicht so recht wissen, wie sie sich Gott vorstellen sollen», halten die Forschenden im neuen Buch fest. Die Institutionellen sind praktisch einhellig (zu 99%) der Meinung, Gott interessiere sich für jeden Einzelnen. Das glauben aber nur 2% der Säkularen: Sie denken oft, dass Gott eine reine Illusion sei.
Säkularer Konkurrenzdruck
Innerhalb aller vier Typen entfaltet sich eine starke Individualisierung. Zunehmend entscheidet jeder für sich allein, was er glauben und praktizieren will. Dabei stehen der individuelle Nutzen und die persönliche Befindlichkeit im Vordergrund. Das eigene Ich ist sowohl bei Gläubigen als auch bei Ungläubigen zur zentralen Richtschnur des Entscheidens geworden. Aufgrund der Wahlfreiheit gerät die religiöse Sphäre zunehmend unter Konkurrenzdruck, weil die Individuen sowohl religiöse als auch säkulare Angebote nach Leistung und Preis beurteilen. Diese Konsumorientierung hat sich in der Schweiz seit den 1960er-Jahren durchgesetzt, schreiben die Forschenden.
Die wichtigsten Konkurrenten bestehen aus säkularen Freizeitaktivitäten, welche religiöse Aktivitäten verdrängen können. Wenn Kinder und Jugendliche an den Wochenenden Fussball spielen statt die Sonntagsschule besuchen, behindert das deren religiöse Sozialisierung. Das führt insbesondere bei Reformierten und Katholiken zu einem starken Traditionsabbruch, schreiben die Forschenden.
Zunehmende Kritik
Schliesslich erkläre der Konkurrenzdruck auch, warum Religionsgemeinschaften immer mehr auf kirchliches Marketing setzen. Trotzdem werden Religionen zunehmend distanziert und kritisch betrachtet, wie die Forschenden insgesamt zum Schluss kommen. So sind 85% der Befragten völlig oder eher der Meinung, dass bei einer Betrachtung der Geschehnisse in der Welt «Religionen eher zum Konflikt als zum Frieden führen».
(*) J. Stolz, J. Könemann, M. Schneuwly Purdie, T. Englberger, & M. Krüggeler (2014). Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. Zürich: TVZ/NZN.