Hochschule Luzern, Virtuelles Gehen gegen hartnäckigen Schmerz nach Querschnittverletzung

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Virtual Walking ist eine neue Therapiemöglichkeit gegen chronische Schmerzen von Querschnittgelähmten. ©Zentrum für Schmerzmedizin

Kein Gefühl in den Beinen, aber trotzdem rasender Schmerz – das kann das Leben mit einer Querschnittverletzung noch lange Zeit nach dem Unfall zur Hölle machen. Das Zentrum für Schmerzmedizin und die Hochschule Luzern entwickelten eine neue Therapiemöglichkeit: «Virtual Walking». Es ist eine komplizierte und weltweit einzigartige Installation, die am Zentrum für Schmerzmedizin (ZSM) in Nottwil aufgebaut ist. Eine Leinwand, in deren Mitte eingebaut eine Kamera; davor ein Elektrorollstuhl, der Beckenbewegungen simulieren kann. Oben an der Decke hängt ein Kurzdistanz-Beamer und hinten im Raum ein grosses grünes Tuch. «Mit diesem Aufbau wollen wir Querschnittgelähmten für eine kurze Zeit das Gefühl vermitteln, dass sie sich selbst gehen sehen, wie im Spiegel», sagt Prof. Dr. Roger Abächerli, Projektleiter seitens Hochschule Luzern. Ziel des Projekts «Virtual Walking» ist es, sogenannte Deafferenzierungsschmerzen zu lindern – oft unerträgliche chronische Schmerzen an Körperteilen, die Querschnittgelähmte aufgrund der Lähmung eigentlich gar nicht spüren können. Ausgelöst werden sie durch eine Verwirrung des Gehirns. Die Idee zur Therapie kam vom Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil, die Umsetzung entwickelten die Orthotec AG in Nottwil sowie Forschende und Studierende des Instituts für Medizintechnik der Hochschule Luzern, in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Instituten des Departements Technik & Architektur.

Den Eindruck des Gehens simulieren

Ein Patient sitzt vor dem grünen Hintergrund, die Beine abgedeckt mit grünem Stoff. Vor sich eine Leinwand, auf der er sich selbst durch einen Wald gehen sieht. Nur: Gehen kann der Patient nicht; er ist querschnittgelähmt. Der umgebaute Elektrorollstuhl, auf dem er sitzt, simuliert für das Becken die Gehbewegung. Eine Kamera in der Leinwand nimmt seinen Oberkörper auf. Der Greenscreen und die grüne Beinbedeckung ermöglichen es, die Aufnahme des Oberkörpers zu extrahieren. So kann diese dank einer eigens dafür entwickelten Software mit dem vorproduzierten Video von zwei gesunden, gehenden Beinen und der Waldszene zusammengefügt werden.

Schmerzen sind sehr belastend

Der Patient im Elektrorollstuhl gehört zu den 75 Prozent der Querschnittgelähmten, die unter diesen chronischen, neuropathischen Schmerzen leiden. Das mag zwar harmlos klingen, ist für Betroffene jedoch brutale Realität. Karina Ottiger-Böttger, Projektleiterin vom Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil beschreibt dies so: «Man muss sich das ähnlich belastend vorstellen wie schlimme Zahnschmerzen – fast nicht auszuhalten. Die meisten der Betroffenen geben Schmerzen als ihr Hauptproblem an und nicht ihre körperliche Behinderung.» Diese Schmerzen seien schwierig zu beeinflussen, sagt Dr. André Ljutow, Chefarzt am Zentrum für Schmerzmedizin in Nottwil. Für die Behandlung der Schmerzen gäbe es von Medikamenten bis Physio- und Ergotherapie verschiedene Ansätze – doch in vielen Fällen helfen sie alle nicht weiter.

Dem Gehirn Zeit zum Lernen geben

Hier setzt das Projekt «Virtual Walking» an. Die Patientin oder der Patient soll für zehn, später dann für zwanzig Minuten den Eindruck erhalten, dass er oder sie sich im Spiegel beim normalen Gehen betrachtet kann. So soll das Gehirn die Möglichkeit erhalten, sich auf die neue Situation einzustellen. Denn die Veränderung, die durch die Lähmung entsteht, ist nicht nur für die Psyche ein Schock, sondern auch für das Gehirn. Die erlebten und die gefühlten Körpergrenzen stimmen von einem Moment auf den anderen nicht mehr überein; die Beine sind für die Augen zwar sichtbar, doch sie reagieren nicht auf Reize. «Die Informationen aus dem Nervensystem sind widersprüchlich. Das Gehirn kann diesen Konflikt nicht so schnell lösen und reagiert wie ein abgestürzter Computer mit einer Fehlermeldung: Der Alarm äussert sich als Schmerz», sagt Dr. André Ljutow. Der Anblick des eigenen Körpers von aussen, der so wie früher auf eigenen Beinen geht, soll das Gehirn von diesem Widerspruch entlasten.

Eine möglichst realistische Illusion schaffen

Die Idee ist nicht neu, sie wurde bereits 2007 wissenschaftlich publiziert. Das Zentrum für Schmerzmedizin wollte gemeinsam mit dem Institut für Medizintechnik der Hochschule Luzern nun den technischen Fortschritt nützen, um diese Form der Therapie zeitgemäss umzusetzen. Ziel war es, den Eindruck des Gehens so realistisch wie möglich zu gestalten. Der umgebaute Elektrorollstuhl simuliert nun für das Becken die Gehbewegung. Die Kamera ist in der Leinwand angebracht, damit das Bild des Oberkörpers frontal aufgenommen werden kann, wie man sich im Spiegel sehen würde. Die Leinwand ist über drei Meter breit, damit die Patientin oder der Patient die Augen schweifen lassen kann, ohne gleich aus der Illusion zu fallen. Eine Software schliesslich führt die drei Bildelemente Patient, Beine und Landschaft zusammen. «Die Herausforderung bestand nicht nur darin, die Software zu schreiben, sondern vor allem darin, die drei Bildebenen so zu gestalten, dass sie ein einheitliches Bild ergeben», erklärt Prof. Dr. Roger Abächerli.Nach rund vier Jahren Arbeit ist es nun so weit: Erste Patientinnen und Patienten konnten in Nottwil das weltweit einzigartige Therapiesystem «Virtual Walking» testen – bis jetzt mit positiven Resultaten. Das Zentrum für Schmerzmedizin arbeitet weitere Behandlungstechniken für ähnliche Krankheitsbilder aus, wie Schlaganfälle, Verletzungen mit Nervendurchtrennungen oder Entzündungen von Nerven.[content_block id=45503 slug=unterstuetzen-sie-dieses-unabhaengige-onlineportal-mit-einem-ihnen-angesemmen-erscheinenden-beitrag]