HSLU-Studie zu innerfamiliärer Gewalt: die Pandemie nagt an den Nerven

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Innerfamiliäre Konflikte und Gewalt nahmen nach dem Ende des Lockdowns eher zu als ab. Das zeigt eine repräsentative Bevölkerungsbefragung der Hochschule Luzern. Die Studie hat untersucht, wie sich das Zusammenleben in den Familien während des Lockdowns und in den ersten Monaten danach entwickelt hat. Aussagen zur Entwicklung der Fallzahlen häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie beruhten bisher in erster Linie auf Auswertungen von polizeilich bekannten Fällen und Beratungszahlen von Opferhilfestellen. «Diese Zahlen geben ausschliesslich über gemeldete Fälle Auskunft», sagt Paula Krüger, Gewaltforscherin an der Hochschule Luzern. Unabhängig von der Pandemie sei es jedoch bekannt, dass sich nur wenige Betroffene an die Polizei oder Beratungsstellen wenden. Ergänzend zu den offiziellen Statistiken brauche es Dunkelfeldstudien, in denen die Bevölkerung zu Konflikten in der Familie bis hin zu Gewalterfahrungen befragt wird. Zwei Forscherinnen des Departements Soziale Arbeit der Hochschule Luzern haben dazu eine repräsentative Langzeitstudie lanciert. Gemeinsam mit dem Umfrageinstitut gfs.Bern haben sie in der ganzen Schweiz 1’037 Personen nach ihrem Befinden während des Lockdowns und während eines Zeitraums von vier Wochen im Sommer befragt. Die Resultate zeigen, wie sich das familiäre Zusammenleben in der Zeit nach dem Lockdown verändert hat. Ein Vergleich mit Zahlen zu innerfamiliären Gewalterfahrungen in der Zeit vor dem Lockdown ist allerdings schwierig: «Üblicherweise decken Befragungen zu Gewalterfahrungen in Familien einen viel grösseren Zeitraum ab», so Krüger. Deshalb lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt nur Aussagen über die Entwicklung der Zeit von April bis August machen.

Familien ohne Garten oder grossen Balkon erlebten mehr Spannungen

Die Mehrheit der befragten Personen beschrieb das Klima in ihren Familien während beider Zeiträume als eher harmonisch. Jeweils gut ein Viertel berichtete jedoch von Reibereien oder Spannungen. «Dabei gibt es gewisse Faktoren, die mit dem Auftreten innerfamiliärer Spannungen verknüpft sind», sagt Paula Krüger. So mache es einen bedeutenden Unterschied, ob die Familie über einen Garten, einen grossen Balkon oder eine Terrasse verfügt. «Familien, die in einem Haus oder einer Wohnung mit Garten oder Terrasse wohnen, haben ihr Familienleben während des Lockdowns als harmonischer beschrieben also solche ohne», so Krüger. Zudem zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der Einkommenssituation der Familien und dem Familienklima. Je grösser die Schwierigkeiten einer Familie, mit dem Einkommen zurechtzukommen, desto häufiger berichteten sie von Spannungen und desto weniger harmonisch beschrieben sie das Familienleben. Das Gleiche trifft für Familien zu, in denen die Eltern ihre Kinder zumindest zum Teil neben der Arbeit betreuen mussten.

Mehr Gewalt gegen Kinder im Sommer als während des Lockdowns

Ein spannungsreiches Familienklima kann ein Nährboden für innerfamiliäre Gewalt sein. Die Forscherinnen haben untersucht, ob es im Laufe der Corona-Pandemie bei den befragten Familien zu innerfamiliärer Gewalt gekommen ist und wie sich die Situation im Sommer entwickelt hat. Sie haben die Teilnehmenden der Erhebung gefragt, ob sie mindestens einer Form von innerfamiliärer Gewalt durch eine andere erwachsene Person (z. B. Partnerin oder Partner, Eltern, erwachsenes Kind) ausgesetzt waren. 5,5 Prozent der Befragten gaben an, das sei während des Lockdowns der Fall gewesen. Im Sommer gingen die Zahlen zwar leicht zurück auf 5,2 Prozent, allerdings wurde hier ein kürzerer Zeitraum von vier Wochen betrachtet im Vergleich zu dem doppelt solangen Lockdown. Eine deutliche Zunahme zeigte sich bei der Gewalt gegenüber Kindern: 4,5 Prozent der Befragten, die mit Kindern in einem Haushalt leben, gaben an, während des Lockdowns einem Kind gegenüber gewalttätig geworden zu sein. Im Sommer waren es 5,6 Prozent. Insgesamt am häufigsten wurde von psychischer Gewalt berichtet – insbesondere von wiederholten Beschimpfungen. Vergleichsweise wenige Befragte gaben an, Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt geworden zu sein.

Pandemie verstärkt bereits bestehende Risikofaktoren

Bei der innerfamiliären Gewalt zeichnet sich das gleiche Muster ab wie beim wahrgenommenen Familienklima: Besonders von Gewalt betroffen waren Personen aus Familien, die Mühe hatten, mit ihrem Einkommen zurechtzukommen und in denen ein eher konfliktbehaftetes Familienklima herrschte. Auch Personen, die ältere Angehörige pflegten oder zumindest teilweise während der Arbeit Kinder betreuen mussten, haben vermehrt von Gewaltsituationen berichtet. «Die Pandemie erzeugt keine neuen Risikofaktoren, sie setzt bei bekannten Faktoren an und wirkt verstärkend», so Krüger. Mit ihrer weiteren Arbeit wollen die Studienautorinnen noch mehr Einblicke in die Entwicklung innerfamiliärer Konflikte und Gewalt während der Pandemie gewinnen. Auch wenn es laut Krüger bisher nicht so aussieht, als sei es im Frühjahr zum befürchteten starken Anstieg von innerfamiliärer Gewalt gekommen, scheint die Pandemie Folgen für das Familienklima zu haben. «Die Resultate deuten darauf hin, dass die lange Dauer der Pandemie an den Nerven der Bevölkerung nagt, was zu mehr Spannungen und Konflikten bis hin zu Gewalt in den Familien führen kann», so das Fazit der Studienautorinnen.

Weitere Informationen zum Projekt und den Kurzbericht zu den
ersten Resultaten gibt es HIER.[content_block id=29782 slug=ena-banner]