Produktion und Besetzung:
Musikalische Leitung: Gabriella Teychenné Regie: Gerard Jones Bühne: Anna Yates Kostüme: Donna Raphael Licht: Marc Hostettler Dramaturgie: Talisa Walser Nachdirigat: Jesse Wong Choreinstudierung: Mark Daver
Vladyslav Tlushch (Conte Almaviva) Eyrún Unnarsdóttir (Contessa Almaviva) Tania Lorenzo (Susanna) Sebastià Peris (Figaro) Solenn‘ Lavanant Linke (Cherubino) Marcela Rahal (Marcellina) Robert Maszl (Don Basilio / Don Curzio) Rainer Zaun (Don Bartolo / Antonio) Aline Dätwyler (Barbarina) Xenia Romanoff (Due donne) Hanna Jung (Due donne) Chor des LT Luzerner Sinfonieorchester
Der geniale Tausendsassa, Lorenzo Da Ponte, (1749-1838) wurde wegen seiner drei Libretti für Mozarts Opern berühmt. «Figaros Hochzeit», «Don Giovanni» und «Cosí fan tutte» zählen zu den Meisterwerken der Musikgeschichte. Er schrieb aber ca. 40 Textbücher für die damaligen Komponisten in Wien, und manche dieser Opern waren weit erfolgreicher als Mozarts Figaro! Schon mal zum Beispiel vom Komponisten Vicente Martín y Soler gehört? Ich nicht.
Da Pontes Leben war voller Abenteuer (Sex- und Finanzskandale). 1805 wanderte er – notgedrungen – nach Amerika aus und wurde u.a. Tabak- und Gemüsehändler, Professor für italienische Literatur und Verleger. Er setzte sich sogar für die Verbreitung der Opernkultur in New York ein.
Da Ponte musste die französische Komödie von Beaumarchais: «Le mariage de Figaro ou la folle journée» gleich nach ihrer Premiere 1784 kennengelernt haben. Mozart, stets auf der Suche nach einem geeigneten Sujet, hatte bei ihm das Libretto bestellt und konnte mit der Komposition schon im Oktober 1785 beginnen. In sechs Monaten war die Partitur fertig und trotz aller Intrigen am Hof wurde die Uraufführung ein grosser Erfolg. Ist es nicht ein Gaudi für das Publikum, wenn ein adliger Schürzenjäger von seinem schlauen Diener – mit der Hilfe der Gattin und des übrigen Personals – übertölpelt wird? Bis dato aber unerhört; sicher auch der Grund, warum die Komödie als Vorspiel zur französischen Revolution verstanden wurde.
Was kann man über diese Oper noch sagen? Musikliebhaber und Fachleute beten sie an. Aber Da Ponte muss auch mal ins Rampenlicht gerückt werden: Er leistete mit dem Libretto etwas Geniales, das Mozart zu diesem Höhenflug inspirierte, das er eins zu eins in Musik umsetzen konnte.
Genug der Schwärmerei. Die Erwartungen sind hoch, wenn ein neuer Figaro angekündigt wird, wie jetzt im Luzerner Theater. Das Werk stellt höchste Ansprüche an alle … Zuhörer! Und das Dargebotene sprengt den Rahmen mancher romantischen Grossoper. Worauf soll man achten? Auf die vertrackte Handlung, die schwierigen Gesangspartien, die anspruchsvolle Schauspielerei, die himmlische Orchestrierung und – last, but not least – die neuen Einfälle der Regie? Alles wird mit Spannung beobachtet, alles ist von grösster Wichtigkeit.
Die grossen Partien
Nun, dem jungen Luzerner Ensemble gelingt eine aktionsreiche, fesselnde Aufführung von hohem Standard. Nach der überraschenden Ouvertüre (darüber später mehr) bereiten die Chormitglieder die Szene vor und die Handlung kann mit den ungewöhnlichen Worten beginnen: Cinque… dieci… venti… trenta…
Figaro misst den Platz für sein Hochzeitsbett aus!
So haben wir gleich die ideale Besetzung für die Titelrolle vor unseren Augen: Sebastià Peris, hochgewachsen, jung, gutaussehend, mit einer wandlungsfähigen, schmeichelnden Baritonstimme. Seine Auserwählte, die Zofe Susanna, hinreissend gesungen und gespielt von Tania Lorenzo, ist eine quirlige, temperamentvolle Hübsche, die auch schlagen und fauchen kann, wenn sie ihre Rechte verteidigen muss.
Der ständig hintergangene Graf Almaviva muss andauernd zwischen seinem wahren Gesicht, dem geilen Schürzenjäger, und dem des würdevollen Hausherren wechseln. Dieser Pfauentanz gelingt dem Bariton Vladyslav Tlushch vorzüglich, zumal seine geschmeidige Stimme und elegante Statur ihn für diese Rolle prädestiniert.
Die Gräfin? Das Publikum fiebert mit, dass Figaros Hochzeit endlich ungestört stattfinden kann, wir lieben das Brautpaar und sind zuversichtlich, dass die Sache gut endet; aber echtes Mitleid haben wir nur mit Rosina, der Gräfin, weil die Schöne diesen Ehemann auch weiterhin ertragen muss.
Mozart, wissend um unser Mitgefühl, schenkte ihr zwei Arien – und was für welche! War es seine Absicht, ihr stets den wärmsten Applaus zukommen zu lassen und uns fast zu Tränen zu rühren? Ja, das Theatergenie wusste Bescheid: Wenn uns etwas gefällt, applaudieren wir gern. Wenn wir jedoch Mitleid haben, applaudieren wir mit Inbrunst. Das echte Leiden, das man selten in einer Opera Buffa findet, konnte der dramatische Koloratursopran, Eyrún Unnarsdóttir wunderbar vermitteln. Ihre Stimme besitzt die ideale Fülle, auch in der Höhe, die zu Herzen geht.
Ich muss endlich zu Cherubino kommen: eine zauberhafte Gestalt, einmalig in der Operngeschichte. (Richard Strauss hatte ehrlich zugegeben, dass er mit seinem «Rosenkavalier» Mozart huldigen, das heisst, dieselbe Magie erreichen wollte. Ist es ihm gelungen?)
Dieser Halbwüchsige, der sich in jede Frau am Hof verliebt, weil er in die Liebe selbst verliebt ist, hat eine doppelte Geschlechterrolle. Ein Knabe, der von einer Frau gespielt wird, der sich wegen der obligaten Verkleidungen auch mal als Frau verkleiden lassen muss – und er geniesst es sichtlich! Erotik pur. Voilà, das Genderproblem auf die Spitze getrieben und aktueller als je. Wie ging die prüde Hofgesellschaft damit um? Vielleicht lockerer als manche rechtspopulistische Regierung in unseren Tagen. Die Sängerin Solenn’ Lavanant Linke gibt sich herrlich linkisch, tollpatschig in der Hosenrolle, ihre lyrische Sopranstimme strahlt in den berühmten Arien.
Ensemble und Regie
Die mittleren Partien sind ebenfalls hervorragend besetzt. Marcela Rahal gibt eine kokette, überzeugende Marcellina, die schnell von der Rolle der Buhlerin zur Mutter-Rolle findet. Die Männer in den Doppelrollen können ihre komödiantischen Talente auch voll einsetzen. Seit der Uraufführung bevorzugt man nämlich Don Basilio und Don Curzio mit einem Sänger (Spieltenor) zu besetzen, hier geschehen mit Robert Maszl. Don Bartolo und der Trunkenbold Antonio (Charakterbass) wird von Rainer Zaun zum Besten gegeben. Mit Alina Dätwyler als Barbarina überzeugen stimmlich alle mittleren Partien und fügen sich hervorragend in die grossen Ensemblesätze ein, namentlich im Finale des dritten und des vierten Aktes.
Das Luzerner Sinfonieorchester gibt ihnen die ideale Unterstützung und spielt mit Verve unter der Führung der jungen Dirigentin Gabriella Teychenné.
Über das Sängerische hinaus, schauspielern und agieren die Ensemble-Mitglieder mit so viel Lust und Motivation, dass es eine Freude ist zuzusehen. Das Verdienst der Regie?
Wohl auch, abgesehen davon, dass diese Traumrollen auf der Wunschliste jeder Sängerin und jedes Sängers zuoberst stehen. Der Regisseur Gerard Jones verzichtet auf altes Theaterplunder und versetzt die Handlung in die 1960er Jahre; für die Jugend vielleicht auch schon was Historisches. Passende Bühne und Kostüme dazu von Anna Yates und Donna Raphael. Das Tempo der Vorstellung ist ideal, Freizügigkeit mit einem Hauch Vulgarität entspricht dem Zeitgeist. Die Schauspielerei beginnt sogar schon während der Ouvertüre. Eine stumme, aber lebhafte Tafelszene zeigt die Spannungen unter den Protagonisten auf und bereitet uns auf die folgenden Ereignisse vor. Die Szenerie wird nicht diskret hinter dem Vorhang verändert; die Chormitglieder und Statisten, die aktiv die Bühne mitgestalten, lassen uns ständig an Bertolt Brecht erinnern: Es ist nur Theater!
Gott sei Dank, es ist Theater. Noch immer. Seit Stendhal 1824 den Tod der Gattung Oper prophezeite, kommen regelmässig düstere Weissagungen über uns, sogar von prominenten Musikern. Der Doyen des Lucerne Festival, Pierre Boulez sagte mal in jungen Jahren: «Sprengt die Opernhäuser in die Luft!»
Naja, das war 1967. Später ist auch er weiser geworden, hatte selbst Opern dirigiert, sogar in Bayreuth. Und wir sind dankbar, dass sein Rat nicht befolgt wurde. Es lebe die Oper.
Text: https://annarybinski.wordpress.com/
Fotos: Luzerner Theater Ingo Hoehn www.luzernertheater.ch
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