Luzerner Sinfonieorchester Le piano symphonique Johannes Brahms KKL Luzern 9. 2 2022, besucht von Léonard Wüst

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Das Luzerner Sinfonieorchester mit Dirigent Michael Anderling und Marc-André Hamelin Foto Patrick Hürlimann.

Besetzung und Programm:
Luzerner Sinfonieorchester
Michael Sanderling, Leitung
Marc-André Hamelin, Klavier

Johannes Brahms (1833 – 1897)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur op. 83
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73

Das früher jeweils im November programmierte «Lucerne Festival am Piano» wird von sehr vielen Konzertgängern schmerzlich vermisst. Das Luzerner Sinfonieorchester ist nun hier in die Bresche gesprungen, oder nutzt geschickt die Möglichkeit, ein eigenes kleines Festival unter dem Namen «Le piano symphonique» zu etablieren, was bis anhin erfolgreich gelungen ist. Nach den, von Besuchern und Kritik gefeierten Konzertabenden mit Klavierwerken von Camille Saint-Saëns, waren nun Werke von  Johannes Brahms an der Reihe.

Die manchmal unterschätze  Bedeutung von Brahms Klavierwerken

Le piano symphonique Johannes Brahms Dirigent Michael Sanderling

Die Klavierkonzerte von Johannes Brahms sind zwar nicht mit den virtuosen Monumenten  à la Liszt, Tschaikowsky oder Rachmaninow vergleichbar, dennoch sind sie beim Publikum sehr beliebt, vielleicht auch etwas aufgrund der Biografie des Komponisten. Trotzdem: Lange Zeit galt es unter Pianisten als das überhaupt schwierigste aller Klavierkonzerte. Vor allem in den Ecksätzen weist es grosssinfonische Dimensionen auf; der langsame, durch ein elegisches Solo-Cello gekrönte Satz ist im Gegensatz dazu von exquisiter kammermusikalischer Intimität.

Reinfall mit dem ersten, Triumph mit dem zweiten Klavierkonzert

Marc-André Hamelin Solist am Klavier

Mit seinem Ersten Klavierkonzert war Brahms im Alter von 25 Jahren noch entschieden durchgefallen. Denn das Publikum erwartete vor allem wirkungsvolle Zirkusnummern und pianistische Bravour. Brahms bot stattdessen ein Konzert aus dem strengen Geist der großen Symphonie. Auch in seinem Zweiten Konzert blieb sich Brahms darin absolut treu, doch diesmal war das Publikum hin und weg vor Begeisterung. Das lag zum einen schlicht daran, dass Brahms mittlerweile, im Jahr 1881, weltberühmt war. Man wusste eben, dass man von diesem Meister kein kompositorisches «fast food» zu erwarten hatte, sondern reiche und dichte Musik, emotional packend, aber nicht auf äußere Wirkung berechnet.

Brahms ordnet dem Solisten neue Rolle zu

Der andere Grund für den großen Erfolg des 2. Klavierkonzerts war die neue Rolle des Solisten: Er wird zur Schaltzentrale, ist fast immer aktiv, gibt die Impulse, dialogisiert und treibt das Geschehen voran. So steht gleich am Beginn ein romantisches Horn Solo, aus dem sich eine ausgedehnte Klavierkadenz entwickelt. Dann erst antwortet das ganze Orchester. Auch der langsame Satz ist über weite Strecken eigentlich intime Kammermusik. Ein Solocello wird zum Partner des Klaviers – und in den Klarinetten zitiert Brahms aus seinem Lied „Todessehnen“ den Vers: Hör es, Vater in der Höhe, aus der Fremde fleht dein Kind.

Schwerbepackt auf Italienreise

Warum kann man sich Brahms so schwer als bildungsbürgerlichen Kunstreisenden in Italien vorstellen? Und doch arbeitete er sich, mit Reiseführern schwer bepackt, von Kathedrale zu Kathedrale pilgernd, im Frühjahr 1881 bis nach Sizilien vor – mit seinem Freund, dem Chirurgen Billroth. Von dieser schönsten seiner acht Italienreisen brachte er Skizzen für ein neues Konzert mit. Die italienische Musik unterwegs wird ihn nicht abgelenkt haben, die fand Brahms nämlich „schauderhaft“. Doch wann immer ihm ein neues Werk zur Herzensangelegenheit wurde, schrieb er darüber in krampfig witzelndem Ton.

Aus angekündigtem «ganz kleinen Konzert» wurde ein Chef d`oeuvre

Solist Marc-André Hamelin

Das vierhändige Probespiel des neuen Klavierkonzertes – „ganz ein kleines Konzert“ nannte Brahms es – kündigte er Bülow gegenüber als „das lange Schrecknis“ an. Und in gewisser Weise war das B-Dur-Konzert auch ein „Schrecknis“. Mit seinem ersten Klavierkonzert hatte Brahms 1859 die furchtbarste Niederlage seiner Laufbahn erlebt, und er brauchte über zwanzig Jahre, um Mut für einen zweiten Anlauf zu fassen. Vielleicht gab ihm die Schönheit Italiens Sicherheit, dieses mächtigste aller romantischen Konzerte zu schaffen, das mit seinen Gebirgen von Sexten und Oktaven so extrem schwer zu spielen ist, dass der eigentlich zurückhaltende Alfred Brendel einmal gar von „pianistischen Perversionen“ sprach. Mit seiner breiten, marmorhaft getürmten Größe hat das Werk – allzu selbstsicher vielleicht – die Zweifler verstummen lassen, doch man vermisst auch jene sehnsüchtige Wehmut, jenes fast intime Aroma, das Brahms´ Formkunst das Abweisende nimmt.
Es ist am Solisten, all den Akkordmassen eine menschliche Stimme zu geben, die füllig-wärmsten Klänge zu formen. Kraftvoll-gelassen erspielt sich Hamelin dieses Werk, kann größte Wildheit im zweiten oder die schlendernde Lässigkeit im ungarischen Finale entfalten, ohne seine wahrhaft olympische Balance zu verlieren. Vielleicht hat er da den zum majestätischen Ebenmaß strebenden Wesenszug des Konzertes erspürt, den es den Kunstekstasen seines Schöpfers in Italien verdankt.
Marc-André Hamelin sprengt mit wilder Attacke diese tönende Abgewogenheit. Er greift die Kadenzen des ersten Satzes mit kalter Wut an, gönnt sich kaum Pedalabsicherung bei den riesigen Sprüngen. Er will das Stück bezwingen. Erregend hörbar wird, wie gefordert er ist, sein Ziel einer schlanken, gar aggressiven Deutlichkeit hier zu erreichen. Das zweite Klavierkonzert von  Johannes Brahms ist ein Schwergewicht, keine Frage. Und dies nicht nur aufgrund seiner Länge von gut fünfzig Minuten, sondern weil es Sinfonisches mit pianistischer Klanggewalt verbindet, daneben aber auch Kammermusikalisches enthält. Gewissermaßen die Quadratur des Kreises also für die Interpreten. Wenn es zündet, ist es eine Offenbarung. Das Luzerner Sinfonieorchester hat unter der Leitung von  Michael Sanderling einen feurigen Zugriff, Leidenschaft kommt durch, und auch die filigranen Passagen kommen zu ihrem Recht, die Farben sind gekonnt abgemischt. Solist Marc-André Hamelin stößt mit technischer Meisterschaft, in die dramatischen und ekstatischen Höhen vor.

Hamelin kann sanft, aber auch grantig

Solist Marc-André Hamelin Symbolbild

Auch die leichtfüßigen und lyrischen Teile, ebenso das Duftige, das Verträumte in diesem Konzert liegen ihm. Also, ob grantig oder lyrisch, kraftvoll oder feinfühlig, der frankokanadische Solist weiss zu überzeugen und begeistern, auch dank kongenialer Unterstützung des, von Michael Sanderling sehr engagiert geleiteten Luzerner Sinfonieorchester, dem Residenzorchester des Hauses.

Das Auditorium war begeistert und applaudierte den Solisten und den Dirigenten immer wieder zurück auf die Bühne und liess nicht locker, bis Hamelin sich wieder an den Flügel setzte und noch ein kurzes Werk von Philippe Emmanuel Bach als Zugabe gewährte.

Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73

Kurzbeschrieb :

Eine einladende Geste der Bässe – und ein freundliches Hornthema eröffnet den ersten Satz. Das lange, gestikulierende Cellothema im zweiten Satz weiß, dass der Weg das Ziel ist. Der dritte Satz ist ein nostalgisches Menuett – ein tanzendes Paar aus Porzellan auf dem Kaffeetisch. Im vierten Satz wird ein lustiger Überraschungsangriff vorbereitet. Es beginnt pianissimo, alle gehen in Stellung – dann tobt es los: ausgelassen, überkandidelt. Am Schluss heißt es: hau den Lukas, Fanfare, alles gut!“

Die am leichtesten zugängliche aller Brahms Sinfonien

Von den vier Brahms-Sinfonien ist die zweite wohl am leichtesten zugänglich: Nichts von norddeutscher, tiefschürfender Grübelei, sondern viel lichtstrahlende Helle und ebenso viel elegische Melodik. Für Brahms möglicherweise fast zu viel des Guten, sodass er warnend meinte: «Die neue Sinfonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten.» Die Musikgeschichte hat es längst bewiesen: Wir halten es nur zu gerne aus.

Brahms komponierte künstlerisch befreit

In einem Gefühl der „künstlerischen Befreiung“ komponierte Brahms seine zweite Sinfonie innerhalb von wenigen Monaten und behauptete sich damit als souveräner Sinfoniker. Während des Schaffensprozesses 1877 am Wörthersee sagt Brahms sogar, es sei dort so schön und harmonisch, dass die Melodien geradezu in der Luft herumflögen. Die erste Sinfonie wird gerne als „Pathetische“ bezeichnet, wohingegen seine zweite Sinfonie als „Pastorale“ in die Musikgeschichte eingegangen ist. Die ersten beiden Sinfonien sind unmittelbar nacheinander in den Jahren 1876 und 1877 entstanden. Daraus wird oft der Schluss gezogen, dass es sich um Gegensatzpaare handele: Die zweite Sinfonie als optimistisches Gegenstück zur ernsten ersten Sinfonie.

Selbst nach der erfolgreichen Uraufführung seiner zweiten Sinfonie plagten Brahms noch Selbstzweifel

Denn noch vor dem ersten Konzert feilte Brahms intensiv an der Blechbläser-Instrumentation der beiden Ecksätze und gestaltete sogar die Streicherbegleitung in der Coda des ersten Satzes neu, Auch nach der umjubelten Uraufführung waren die Selbstzweifel des Komponisten noch nicht restlos verschwunden. Zudem verwirrte er Verleger sowie Kritiker mit Kommentaren wie: „Die neue Sinfonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten. Die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen.“

Melancholie durchweht das Werk

Michael Sanderling Leitung

In diesen Äußerungen des Komponisten steckt sicherlich eine gehörige Portion Mystifizierung. Dennoch ist die Betonung der melancholischen Aspekte nicht ganz unberechtigt. Bei genauerer Betrachtung erweist sich das Werk als durchaus nicht unproblematisch. So ist beispielsweise der lange erste Satz nicht durchgehend heiter, sondern voller harmonischer und kontrapunktischer Verwicklungen und Kontraste. Auch die Instrumentierung des tiefen Bläserregisters mit drei Posaunen und Tuba, anstelle einer Bassposaune, bewirkt eine dunkle Stimmung. Brahms setzte die Tuba bereits in seinem Requiem immer dort ein, wo von den letzten Dingen die Rede ist. Umso erstaunlicher, dass Brahms zwei – dreimal die «Marseillaise» zu zitieren scheint und zwar genau den Aufbruch, also den Optimismus ( tä tä tä tä tä tä  tä  tä tädä).

Insbesondere im zweiten Satz, einem sehnenden Adagio, schwingt der Wunsch nach etwas Unerreichbarem mit. Ist es die Naturidylle, die Brahms für kurze Zeit in Kärnten gefunden zu haben glaubt? Aber auch diese entpuppt sich als Utopie, als etwas, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Ein tiefer Ernst liegt auch in diesem eigentlich hellen H-Dur-Satz.

Verwirrend tänzerischer 3. Satz

Der dritte Satz mit seinem tänzerischen Rhythmus, überschrieben „Allegretto grazioso“, erscheint als eine kurze Auflockerung zwischen den großen, bedeutungsvollen Gedanken dieses Werks. Aber auch hier: Brahms lässt der Heiterkeit niemals freien Lauf. Diverse Musiker*innen äusserten schon: „Er spielt mit uns die ganze Zeit“. „Es ist ein bisschen wie ein Spiel mit einem Spiegel. Nichts ist, wie es scheint. Für das Orchester ist das immer eine Herausforderung. Vom Metrum her ist es wahnsinnig schwer. Die Musiker klagen immer, dass es in dem Satz total leicht ist, sich zu verzählen. Brahms gibt eine Melodie vor, die eigentlich einfach ist. G-Dur, die einfachste aller Tonarten. Und dann macht er durch dieses Spiel mit dem Rhythmus und den Zeitverhältnissen aus etwas Einfachem ein kleines Kunstwerk. “

Ein Kunstwerk machten die Luzerner, unter der souveränen Leitung  ihres Chefdirigenten Michael Sanderling aus dieser zweiten Sinfonie, knüpften nahtlos an ihre Ausstrahlung von vor der Pause beim Klavierkonzert an. Die ca. 1500 Besucher bedankten sich denn auch mit stürmischer, langanhaltender Akklamation bei den Protagonisten.

Das Luzerner Sinfonieorchster geniesst den verdienten Schlussapplaus

Text: www.leonardwuest.ch

Fotos: www.sinfonieorchester.ch

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Dieser Beitrag wurde am von unter leitartikel und kolumnen von léonard wüst, musik/theater/ausstellungen, schweizweit veröffentlicht.

Über Leonard Wüst

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