Programm und Ausführende:
LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra | LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Chorus (James Wood Einstudierung) | Simon Rattle Dirigent | Barbara Hannigan Sopran
Paul Dukas (1865-1935) Fanfare pour précéder «La Péri»
Claude Debussy (1862-1918) Rondes du Printemps aus Images
Unsuk Chin (*1961) Le Silence des Sirènes für Sopran und Orchester
Uraufführung | Auftragswerk Roche Commission
Luciano Berio (1925-2003) Coro für vierzig Stimmen und Instrumente
Rezension:
Im Januar 2013 gab Sir Simon Rattle bekannt, dass er seinen im Jahr 2018 auslaufenden Vertrag mit den Berliner Philharmonikern nicht mehr verlängern werde.
In Luzern leitete er nicht sein Stammorcheser sondern das LUCERNE FESTIVAL ACADEMY Orchestra, das normalerweise unter der künstlerischen Leitung von Pierre Boulez steht, der krankheitsbedingt dieses Jahr nicht am Festival teilnehmen kann.
Mit Luciano Berio`s spätavantgardistischem Monumentalwerk „Coro“ für Chor und Orchester setzte Rattle die Latte sehr hoch, zumindest für das Publikum, dem diese Komposition wohl grossmehrheitlich unbekannt gewesen sein dürfte. Für diesen einen Abend liess Rattle auch extra einen 4o Sängerinnen umfassenden Chor „casten“, der diese Partitur unter der Leitung von James Wood einstudierte.
Der Reihe nach: im ersten Konzertteil je ein kurzes Werk von Paul Dukas (1865 – 1935) und Claude Debussy (1862 – 1918), dann überraschte uns ein klarer a capella Sopran wie aus dem Nichts, der aus dem Bereich des hinteren Saalteiles erklang. Ihren Solopart weitersingend durchschritt die kanadische Sopranistin Barbara Hannigan (artiste étoile des diesjährigen Festivals) den Konzertsaal, stieg auf die Bühne und gesellte sich zu Dirigent und Orchester. Es war der überraschende Auftakt des, von der südkoreanischen Komponistin Unsuk Chin (*1961, Composer in Residence dieses Festivals), geschriebenen Auftragswerk der Roche Commission: „Le Silence des Sirènes“ für Sopran und Orchester. Nach Textmotiven von Homers „Odyssé“ und „Ulysses“ von James Joyce verfasste Chin ihre Komposition auf eine Art, gegen Ende der Partitur fast unsingbar ,wie sie gegenüber Mark Sattler im Vorgespräch des Konzertes aussagte. Vor allem habe sie im Prinzip das Ganze phonetisch umgesetzt und sei dabei aber auch online in ständiger Verbindung mit Barbara Hannigan gestanden, hätte ihr auch immer wieder Partitur Auszüge übermittelt, die von der Sopranistin jeweils umgehend mit einem „no problem“ kommentiert worden seien.
Zurück zum Konzert. Unglaublich wie klagend, apostrophierend, neckisch, ablehnend, jaulend, euphorisiert, manchmal fast trotzig und zornig die Kanadierin diesen Sprechgesang interpretierte. Auch das von der Interpretin ausgewählte wallende Outfit war perfekt abgestimmt zur visuellen Darstellung der Sirene, in Verbindung mit Dirigent und Orchester schlicht und einfach ein grandioses Gesamtkunstwerk, das wieder einmal klare Akzente in der Interpretation moderner Musik zu setzen wusste.
Das Publikum (ausverkaufter Konzertsaal) würdigte diese Darbietung denn auch entsprechend mit langanhaltendem stürmischem Applaus.
Nach der Pause dann das eingangs erwähnte 60minütige Pièce de Resistance dieses denkwürdigen Abends, der „Coro“, dem folkloristische Elemente verschiedener Kulturen und Textfragmente von Pablo Neruda zugrunde liegen.
Wie Luciano Berio bei früherer Gelegenheit mal aussagte, wurde der Auftakt der Komposition auch von den damaligen Konflikten in Nahost beeinflusst, daher zu Beginn die Sequenz, die akustisch stark einen massiven Bombeneinschlag andeutet.
Das Ganze war nichts für zartbesaitete sensible Naturen. Durch die direkte Integration des Chores ins Orchester (d.h. neben 2 Musikern sass jeweils eine Sängerin) war man auch teilweise abgelenkt, leicht überfordert den Überblick zu behalten, da mal auf der linken Seite sich eine Sängerin erhob, dann wieder in der Mitte oder hinten, rechts, vorne usw.. Dass sich da aber Ausserordentliches ereignete, war irgendwie trotzdem allen Konzertbesuchern klar, wurden doch die Protagonisten mit wahren Applausorgien überschüttet. Ein aussergewöhnlicher, aber auch sehr anspruchsvoller und anstrengender Event, ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Festivals, immer offen für das Neue, dabei trotzdem die Tradition bewahrend und seine Wurzeln nie verleugnend.
Videotrailer von Sir Simon Rattle mit den Berlinern Philharmonikern:
http://www.berliner-philharmoniker.de/geschichte/sir-simon-rattle/
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: www.lucernefestival.ch/
Homepages der andern Kolumnisten: www.marvinmueller.ch
www.irenehubschmid.ch www.gabrielabucher.ch www.erwingabriel.chPaul Ott:www.literatur.li