Programm und Besetzung:
Lucerne Festival Academy Orchestra Ensemble intercontemporain Mariano Chiacchiarini Dirigent (Peszat) | Julien Leroy Dirigent (Moussa) | Matthias Pintscher Dirigent
«Ein Tag für Pierre Boulez»
György Kurtág (*1926) Neues Werk
Auftragswerk von LUCERNE FESTIVAL | Uraufführung
Wolfgang Rihm (*1952) Fusées 2
Auftragswerk von LUCERNE FESTIVAL | Uraufführung
Piotr Peszat (*1990) Pensées Étranglées für Orchester
Auftragswerk im Rahmen der Roche Young Commissions | Uraufführung
Samy Moussa (*1984) Neues Werk für Orchester
Auftragswerk im Rahmen der Roche Young Commissions | Uraufführung
Matthias Pintscher (*1971) Osiris für Orchester
Pierre Boulez (*1925) Notations I-IV und VII. Fassungen für Klavier und Orchester
Rezension:
Ungewöhnlich neu und spannend war die Konzerteinführung. Pierre Boulez` Notations in den Augen und Ohren von 17 Schülern der 4. Klasse des Primarschulhauses Burg in Büron ((Kanton Luzern, Lehrperson Ingrid Guntern), erarbeitet in einem Workshop, umgesetzt und vorgeführt mit Musik, Tanz und Pantomime, teilweise auf eine Leinwand projiziert mit Vibraphonen vorgetragen, moderiert von Tobias Bleek vom „Klavier – Festival Ruhr“.
Erstaunlich, mit wieviel Fantasie und Einfühlungsvermögen die jungen Schüler die Zwölftonwerke zusammen entwickelten und umgesetzt haben, beispielsweise indem sie sich pantomimisch von Mäusen zu Drachen und wieder zurück verwandelten, mit entsprechenden selbst dargebotenen Tonabfolgen auf den Vibraphonen. Scheinbar finden junge, nicht vorbeeinflusste Schüler einfacheren Zugang zu neuer Musik, als so manch gestandener Konzertgänger.
Diejenigen, die die Einführung besuchten, liessen sich jedenfalls positiv überraschen und spendeten den Surentaler Arrangeuren den verdienten Beifall, wofür sich diese, mit schon fast routinierten Verbeugungen, auch artig bedankten. Alle hatten ihren Spass, die Gebenden und die Nehmenden. Die optimale Vorbereitung für das folgende Konzert, das mit gleich vier Uraufführungen programmiert war. Kurzfristig wurde die Reihenfolge aber abgeändert, das Werk von Pjotr Peszat rückte in den zweiten Konzertteil, dafür folgte die Komposition „Osiris“ von Matthias Pintscher den drei übrigen Uraufführungen zum Schluss des ersten Teils. Eine gute Entscheidung, wie sich später herausstellte.
Es begann lautstark mit dem Werk von Samy Moussa (dirigiert von Julien Leroy), dementsprechend fast ohne beruhigende Streicher, die Bühne war hauptsächlich den Schlaginstrumenten vorbehalten, erst ganz am Schluss wurde die Partitur etwas sanfter, versöhnlicher. Das Publikum fand Gefallen an den ungewohnten Tönen und applaudierte den Komponisten auf die Bühne, was dieser sich, strahlend, gerne gefallen liess. Anschliessend übernahm Matthias Pinscher das Dirigieren. Es folgten leisere Töne beim Auftragswerk des Lucerne Festivals des Ungarn György Kurtag, ein Komponist der Boulez – Generation (*1926), auch diese gefielen den Zuhörern die nun gespannt waren, was der, ebenfalls anwesende Wolfgang Rihm im Auftrag des Lucerne Festival komponiert hatte. Im Gegensatz zu den andern Komponisten, kennt man Rihm doch schon einigermassen an den Gestaden Vierwaldstättersees. Es begann irgendwie psychedelisch sphärisch geheimnisvoll, mit relativ kleiner Besetzung. Es waren nur acht Streicher, wovon vier Kontrabässe und ein Cello, den Bläsern und der Rhythmussektion zugesellt, etwas gewöhnungsbedürftig, aber auch diese Komposition bestand die Feuertaufe mit Bravour, bestätigt durch den Applaus, bei dem Dirigent Pinscher den Komponisten auch auf die Bühne bat.
Dann erklang zum ersten Mal am Lucerne Festival „Osiris“, Pintschers Komposition aus dem Jahre 2007, die Pierre Boulez zusammen mit dem Chicago Symphony Orchestra 2008 in Chicago uraufgeführt hatte, wahrlich eine Komposition für ein grosses Orchester in jeder Bedeutung des Wortes. Inspiriert durch das gleichnamige Bild von Joseph Beuys gelang Pinscher ein wirklich grosser Wurf, der alles enthält, was zeitlose Oeuvres ausmacht. Alle Ressourcen und Facetten des fabelhaften, von Pierre Boulez und Festival – Intendant Michael Häfliger gegründeten Orchesters voll ausschöpfend, setzte Pintscher seine Visionen in akustische Bilder um, zeitgenössische Musik, richtungsweisend wie von Mentor und Förderer Boulez angedacht. Wie der grosse Meister immer betont, darf Musik nie zu Ende sein, sondern sie ist ein immerwährender Schöpfungsakt, der kontinuierlichen Anpassung verpflichtet. Unter Beifallstürmen endete dieser erste Konzertteil und man begab sich aufgewühlt und emotional tief berührt in die Pause.
Für den Start des zweiten Konzertteils mit Pjotr Peszats „Pensees étranglées“ übernahm Mariano Chiacchiarini das Kommando am Dirigentenpult. Auch diese Komposition benötigt einen zahlenmässig gross besetzen Klangkörper und kommt trotzdem nicht grossspurig larmoyant daher, der junge Pole ist eher der Mann der leisen Töne, der sparsamen Gestik, nicht im Ausdruck, nur im Klangvolumen. Dies sah oder hörte auch das Auditorium so, dementsprechend der zustimmende Applaus. Zwischenspiel in Form einer kurzen Talkshow, für die Pintscher alle anwesenden Komponisten und Dirigenten dieses Abends auf die Bühne bat und um eine Aussage zur Beziehung des jeweiligen zu Pierre Boulez nachfragte. So gaben alle kurze Statements ab oder kleine Anekdoten zum Besten, wie auch Pintscher selber sein erstes Zusammentreffen mit dem grossen Musiker schilderte, gedacht als Einleitung zur Darbietung der „Notations“ I bis IV und VII. Präsentiert wurden diese dann in Form der Gegenüberstellung der ursprünglichen Klavierversionen, die Boulez als Zwanzigjähriger 1945 in Paris verfasste und den für Orchester bearbeiteten Notations I bis IV von 1978 und der Fassung der siebten aus dem Jahre 1998. Den Pianopart spielte Andrew Zhou, Student der Lucerne Festival Academy. Die Notations sind keine Ohrwürmer, sondern eben Bewertungen, d.h. alles in der Zwölftontechnik verfasst, die Interpretation ist offen, wie dies die Büroner Schüler bei der Einführung demonstriert hatten. Es ergaben sich reizvolle Direktvergleiche der verschiedenen Schaffungsphasen des Genies Boulez dem Vorwärtsdrang, der Befreiung von vermeintlichen Zwängen der Kompositionsarchitektur zum Erschaffen neuer Klangwelten, nicht bloss durch moderner arrangierte Musikliteratur. Wie eng Pintscher mit Boulez verbunden ist, zeigte sich sehr in der Umsetzung der Boulez Ideen durch das von ihm geleitete Festival Academy Orchestra. Dieses lief denn auch zur absoluten Topform auf in Form eines gewissen Spielrausches bis zur finalen Krönung mit der Notation VII. Eine Applauskaskade durch das überwältigte Publikum, fast ehrfürchtig dargeboten, diesen Zaubermoment festhaltend. Das war nicht eine kleine Nachtmusik sondern eine grosse Abendmusik als Krönung dieses denkwürdigen Tages der „Hommage an Pierre Boulez“, welcher leider aus gesundheitlichen Gründen nicht physisch anwesend sein konnte.
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: www.lucernefestival.ch
www.gabrielabucher.ch Paul Ott:www.literatur.li