Besetzung und Programm:
Lucerne Festival Orchestra
Yannick Nézet-Séguin Dirigent
Lili Boulanger (1893–1918) D’un soir triste
Anton Bruckner (1824–1896) Sinfonie Nr. 8 c-Moll WAB 108 Fassung von Robert Haas
Konzerte mit dem Lucerne Festival Orchestra, vor 20 Jahren von Claudio Abbado (1933 – 2014) und Festival Intendant Michael Häfliger gegründet, sind natürlich immer ein Leckerbissen, besonders dann, wenn ein so extrovertierter Gastdirigent wie der Kanadier Yannick Nézet-Séguin das Zepter übernimmt.
Lili Boulanger (1893–1918) D’un soir triste
Die Komponistin hinter dem Werk: Lili Boulanger
Lili Boulanger, eine der faszinierendsten Komponistinnen des 20. Jahrhunderts, hinterließ ein beeindruckendes musikalisches Erbe trotz ihres tragisch kurzen Lebens. „D’un soir triste“ ist ein Werk von bemerkenswerter Schönheit, das die Zuhörer in eine Welt tiefer Gefühle und klanglicher Poesie entführt.
Klangfarben der Melancholie
Das Werk beginnt mit einer geheimnisvollen Einleitung, die sofort eine Atmosphäre von Melancholie und Nachdenklichkeit schafft. Die klanglichen Schichten, die Lili Boulanger in diesem Stück geschaffen hat, sind vielschichtig und nuancenreich. Das Lucerne Festival Orchestra unter Yannick Nézet-Séguins Führung fing die subtilen Schattierungen dieser Komposition meisterhaft ein und verlieh jedem Ton eine besondere Bedeutung.
Die Meisterschaft des Orchesters: Interpretation und Emotionen
Unter dem engagierten Dirigat des gestenreich agierenden Kanadiers zeigte der Weltklasseklangkörper eine bemerkenswerte Sensibilität für die feinen emotionalen Nuancen von „D’un soir triste“. Die Streicher setzten ihre Bögen mit zarter Einfühlsamkeit ein, während die Bläser die Melodien mit Ausdruckskraft und Tiefe präsentierten. Die Interpretation des Orchesters war geprägt von einer tiefen musikalischen Verbindung und einer meisterhaften Balance zwischen lyrischen Momenten und dramatischer Intensität.
Ein Dialog der Emotionen: Solistische Passagen
Die solistischen Passagen im, mit ca. zwölf Minuten Spieldauer relativ kurzen Werk, waren Momente intensiver Intimität. Das Werk bietet den Instrumentalisten Raum für individuellen Ausdruck, und die Musiker*innen des Lucerne Festival Orchestra nutzten diese Gelegenheit, um eine tiefe emotionale Resonanz zu erzeugen. Die klagenden Melodien und die dialogartigen Passagen zwischen den Instrumentengruppen schufen eine eindringliche Klanglandschaft, die die Zuhörer in ihren Bann zog.
Ein musikalisches Erlebnis von großer Schönheit
Insgesamt war die Umsetzung der Intentionen der schon im Alter von 24 Jahren 1918 verstorbenen Komponistin ein musikalisches Erlebnis von großer Schönheit. Das Werk wurde mit einer Mischung aus technischer Präzision und emotionaler Hingabe präsentiert, die die zarten Klangfarben und die tiefe Bedeutung desselben hervorhoben. Das Publikum wurde auf eine Reise der Gefühle mitgenommen und konnte die musikalische Brillanz von Lili Boulanger durch die meisterhafte Interpretation des Orchesters voll und ganz erleben und honorierte dies auch mit entsprechender Akklamation.
Anton Bruckner (1824–1896) Sinfonie Nr. 8 c-Moll WAB 108 Fassung von Robert Haas
Grosse Herausforderung auch für Rezensenten
Die Zusammenfassung im Telegrammstil könnte so klingen: Der Kopfsatz bannend-genial, das bissige Scherzo herrlich unverqualmt, das Adagio schwefelgelb schwelend vor Intensität, das Finale wohltuend gedrängt, scheinbar aus einem Impuls entwickelt. So kann man das Brucknerkonzert mit Yannick Nézet-Séguin beschreiben. Details, die haften: die einen Moment ins Zeitlose dehnende Pianissimo-Coda des Kopfsatzes. Der lässig-leutselige Schwung der Nebenthemen in Trio und Finale. Und voll dunkler Wucht die Celli und Bässe im Adagio (das fff nach dem letzten fff-Höhepunkt des Orchesters) und im Finale. Unsagbar reich die Kulminationsstellen (Reprise im Allegro moderato). Ach ja, fast selbstverständlich: der schier überwältigende Artikulationsreichtum der Geigen.
Ein Bruckner ganz im Stil des kanadischen Dirigenten!
Ansonsten war es ein echter Bruckner. Aufregend ist, dass ein Sinnkern die zahlreichen Themenkomplexe der Ecksätze durchzieht. Dann die bis zu greller Buntheit gesteigerten Farben (was dem Scherzo guttut, im Adagio und Finale für ungewohnt komplexe Hörerlebnisse sorgt). Sodann werden Resignation und Tragik radikal mit subjektiven Gehalten gefüllt. Dazu zählt auch der bis hart an Mahlersche Ausdrucksregionen vorgeschobene Lyrismus des Adagios. das fauchende Brüllen der Tutti-Extasen weist weit voraus. Ja, in diesen Stellen vollziehen sich gar brennpunktartig die Entgrenzungen der Moderne. Adieu, du Vorstellung vom Landei Bruckner. Abschied von der falschen Vorstellung vom biederbösen Gründerjahre Pomp Bruckners.
Bruckners Sinfonie als 88minütges Finale?
Von Yannick Nézet-Séguin und seinen Mitmusiker»innen in einer wirklich hochkonzentrierten Aufführung dargebracht. Da greifen alle ineinander, schaffen sich alle ihren Platz, beziehen Stellung, organisieren sich. Alle Sektionen bis in die Haarspitzen motiviert – da arbeiten, und fuhrwerken im besten Sinne des Wortes die Kontrabässe und geben damit überhaupt ein Gerüst, den so wichtigen Halt. Es gerät zum Sieg der Musikalität dieses wirklich außergewöhnlichen Klangkörpers über eine von Überspanntheit und Gereiztheit und bebender Nervosität durchäderte Komposition. Ein Orchester, das sich immer wieder selbst überraschen kann. Sich selbst, und seinen wunderbar transparenten Gastdirigenten. Dem sie hier wirklich ein Geschenk darbringen, wenn sie ihm folgen, seinen kleinen Fingerzeigen, seinem Flackern der linken Hand, wenn es im dritten Satz in eine Adagio hafte Sanftheit und Leisetreterei geht.
Yannick Nézet-Séguin geht auch körperlich an Grenzen
Yannick Nézet-Séguin, der auch körperlich mächtig Einsatz zeigt, ohne Noten, dafür mit Taktstock leitet, zeigt den Streichern an, die Spannung zu halten, während sich die famosen Holzbläser ein kleines, Menuett artiges Stelldichein mit den drei Klarinetten liefern. Und kurz danach zieht ein Ruck durch den Körper des Dirigenten, er springt beinahe in die Höhe. Sekunden später: Ein anschwellendes Glissando – immer wieder dieses Wechselbad aus hochfahrenden, nachgerade auf die Tube drückenden, pressenden Tempi, gepaart mit einer Dynamik bis an die Grenze des Hörbaren. Jedenfalls im triumphalen Finalsatz, der dem kanadischen Taktgeber und seinen wundervollen weit über 120 Musikern wie eben das eingangs erwähnte Gleißen eines Lichtscheins gelingt. Das Helle, die Erleuchtung behält die Oberhand. Dem Dirigenten gelingt es auf vorbildliche Weise, den dramaturgischen Bogen über die mächtigen Themenblöcke hinweg zu spannen und trotzdem so in Nuancen zu differenzieren, dass es nicht einfach nur möglichst laut ist.
Es wurde schon immer sehr viel über diese Sinfonie philosophiert
Wir ersparen uns alles weitere Philosophieren über das Werk und seine Bedeutung und können wohl anmerken: Es ist möglich, Bruckners wahnwitzige, an Wagner anknüpfende Rhythmik, eine Form zu geben. Der Dirigent schleift auch die expressiven Kanten nicht, die sich so wunderbar rau vom Wohltöner Wagner abheben und eben in eine neue Richtung weisen. Es ist ein beinahe körperlicher Akt, der hier stattfindet – athletisch, muskulös. Ja, auftrumpfend. Aber trotzdem, es gibt so viele, auch von Yannick Nézet-Séguin mit den Hörnern im Blech und den Klarinetten und Oboen und Fagotten herausgearbeiteten Miniaturen, die das Monumentale auf die Erde zurückholen, dass es eine Freude ist. Triumphal! Irgendwie ist diese Sinfonie halt doch schon fast ein 90minütiges Finale und Finalissime die derart daherkommen hat das Publikum besonders gern, wenn sie so mächtig martialisch sind. Das Auditorium zeigte sich begeistert und feierte die Protagonist*innen mit frenetischem Applaus, vereinzelten Bravorufen und schlussendlich einer „Standing Ovation“.
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: Patrick Hürlimann www.lucernefestival.ch
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