Lucerne Festival, Sinfoniekonzert 6 West-Eastern Divan Orchestra | Daniel Barenboim | Elsa Dreisig, 22. August 2018, besucht von Léonard Wüst

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Das Sinfoniekonzert 6 mit Dirigent Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra. Foto Priska Ketterer

Besetzung und Programm:

David Robert Coleman (*1969)
Looking for Palestine für Sopran und Orchester
Schweizer Erstaufführung
Anton Bruckner (1824–1896)
Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Rezension:

Ein regelmässiger Gast in Luzern ist Daniel Barenboim, der gleich über vier Staatsangehörigkeiten verfügt  Mit dem, von ihm im Jahre 1999 mitbegründeten West-Eastern Divan Orchestra, konzertierte er vor vollen Rängen. Dieses Orchester setzt sich zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern zusammen und soll ein Zeichen setzen für das durchaus mögliche friedliche Miteinander der verschiedenen Völker im nahen Osten.

David Robert ColemanLooking for Palestine“ für Sopran und Orchester
Schweizer Erstaufführung

LUCERNE FESTIVAL, Sommer-Festival 2018, Sinfoniekonzert 6, Daniel Barenboim dirigiert das West-Eastern Divan Orchestra mit Elsa Dreisig (Sopran) und Nassib Ahmadieh (Oud) als Solisten in David Colemans „Looking for Palestine“
Luzern, den 22.08.2018
Copyright: Priska Ketterer / LUCERNE FESTIVAL

Die Schweizer Erstaufführung war auch der zweite Auftritt der im Jahre 1991 geborenen, französisch-dänischen Sopranistin Elsa Dreisig nach ihrem letztjährigen Debut am Lucerne Festival. Sie wurde 2016 an Plácido Domingos Operalia Wettbewerb mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Im selben Jahr war sie die „Gesangs-Entdeckung“ bei den Victoires de la musique classique und die Fachzeitschrift Opernwelt verlieh ihr die Auszeichnung als Nachwuchskünstlerin des Jahres. Schon 2015 hatte sie den 2. Preis beim Königin Sonja Wettbewerb in Oslo und den 1. Preis sowie den Publikumspreis beim Wettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh gewonnen.

Arabische Laute, die Oud

Das Stück basiert auf einer Autobiographie von Najla Said, der Tochter von Mitbegründer Edward Said, die als Palästinenserin in New York in einem jüdischen Milieu aufwuchs.  „Das ist ein Thema, das für unser Orchester mit israelischen und arabischen Musikern ganz zentral ist: Wie gehen Menschen mit ihren Identitäten um? Und wie werden sie behandelt?“, so Barenboim in einem Interview mit dem österreichischen „Kurier“. Coleman vertont diese auf ungewöhnliche Weise, indem er der Oud, einer Kurzhalslaute aus dem Vorderen Orient in seiner Partitur viel Raum einräumte, was der Komposition einen orientalischen Touch verlieh. Über die Musik erhob sich dann der wehklagende Gesang der Sopranistin, abwechselnd mit Sprechgesang, Texte rezitierend.

Das Auditorium bedankte sich für dieses ungewöhnliche Konzerterlebnis mit langanhaltendem, kräftigen Applaus und begab sich dann in die Pause in die Foyers des KKL und vor allem, an diesem schönen Sommerabend, auf den Europaplatz vor dem KKL. Dort sichtete man dann auch einige Politprominenz, aktuelle und aus früheren Tagen. So unterhielten sich die Alt Bundesräte Pascal Couchepin und Kaspar Villiger angeregt mit dem Luzerner Stadtpräsidenten Beat Züsli. Auch Züslis Vorvorgänger im Amt, der Luzerner Altstapi Urs W. Studer schüttelte hier und dort Hände, begrüsste alte Bekannte mit ein paar Worten. Ebenfalls anwesend, nebst anderer Prominenz, auch die Altbundesrätinnen Elisabeth Kopp und Ruth Dreifuss. Gutgelaunt genoss man sein Cüpli, sein Glas Wein, den Orangensaft oder das Mineralwasser und dislozierte dann wieder in den angenehm kühlen Konzertsaal für den zweiten Konzertteil.

Anton Bruckner Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Grundsätzliches zu Bruckners Neunter (Quelle: srf)

Bruckner widmete seine siebte Sinfonie König Ludwig II. von Bayern, die Achte eignete er Kaiser Franz Joseph I. von Österreich zu, die Neunte aber Gott höchstpersönlich, denn allein ihm, dem Allmächtigen, habe er schliesslich seine künstlerischen Gaben zu verdanken. Mit ihren religiösen Anspielungen ist Bruckners Neunte denn auch ein tiefempfundenes Glaubenszeugnis des tiefreligiösen Komponisten, ein Gebet und Bekenntnis im Angesicht des Todes.

Ein Jahrhundert lang galt Bruckners Neunte Sinfonie als unvollendet. Der Komponist starb, bevor er den vierten Satz vollenden konnte – das war die weit verbreitete Meinung. In detektivischer Kleinarbeit wurde in den letzten Jahren der unvollständige vierte Satz zu grossen Teilen rekonstruiert.

Die Musik erlischt wie Bruckners Leben

Drei Sätze sind fertig; doch allmählich wird klar: Der geschwächte Komponist wird den vierten und letzten Satz nicht mehr beenden können. Bruckner selbst befürchtet das auch, und so verfügt er, dass anstelle des unvollendeten Finales sein Te Deum gespielt werde.

Der Dirigent der Uraufführung, Ferdinand Löwe, erfüllt den Wunsch des verstorbenen Komponisten. Doch gleichzeitig lässt er verlauten, dass das völlig unnötig sei; auch die ersten drei Sätze von rund einer Stunde Dauer stellten ein vollständiges Werk dar. Und so erklingt Bruckners Neunte Sinfonie bis heute als dreisätziges Werk, mit einem verdämmernden Schluss. Sehr passend, nicht? Die Musik erlischt so wie einst das Leben des Komponisten.

Verschwanden Blätter aus dem Arbeitszimmer?

Doch was genau geschah eigentlich damals bei all den Besuchen von Bruckners Freunden und Schülern am Sterbebett des Komponisten? Schaute der eine und andere vielleicht auch schnell noch ins Arbeitszimmer – und steckte dieses oder jenes Blatt ein? So wichtig konnte das alles ja nicht sein, das eine oder andere durfte man sicher behalten – als Andenken an den verehrten Meister natürlich.

Erwiesen ist jedenfalls, dass die Bruckner-Dirigenten Ferdinand Löwe und Franz Schalk einzelne Seiten aus dem Finale der Neunten verschenkten und verkauften. Und gleichzeitig verbreitete sich das Gerede von Bruckners «unvollendeter» Sinfonie so lange, bis es Tatsache schien.

«Suchen Sie auf dem Dachboden nach Material»

Fachleute sind da heute ganz anderer Ansicht. Bruckner komponierte das Gerüst des Satzes anscheinend lückenlos von Anfang bis Ende, nur die Instrumentierung konnte er nicht mehr vollständig ausarbeiten. Dennoch existierte die Sinfonie somit bei seinem Tod vollständig. Erst später machte fahrlässiges (wenn nicht sogar kriminelles) Verhalten den vierten Satz zum Fragment, mit einigen Lücken im Ablauf.

Doch muss es für immer so bleiben? Tatsächlich kam noch 2003 ein bis dahin unbekanntes Skizzenblatt in einem Nachlass ans Tageslicht… Und Dirigent Nikolaus Harnoncourt, der alle Bruckner-Sinfonien aufgenommen hat, hegt die Hoffnung, dass die eine oder andere Wiener Familie «zuhause auf dem Dachboden oder in alten Kommoden» durchaus noch Material zum Finale der Neunten finden könnte.

Skizzen ergänzt und Lücken nachkomponiert

Einige Musikdetektive gingen sogar noch weiter. Die vier Musikwissenschaftler bzw. Komponisten Nicola Samale, John A. Phillips, Benjamin Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca haben sich in jahrelanger detektivischer Arbeit mit der Sinfonie beschäftigt: mit Bruckners Arbeitsweise und Planung, mit Aufbau und Konzept des Finales, mit der Partitur und jedem einzelnen Skizzenblatt. So wurde es schliesslich möglich, die Skizzen zu ergänzen und die wenigen Lücken nach zu komponieren.

Der Fall ist zu 95 Prozent aufgeklärt

Alles nur Musikwissenschaft? – Durchaus nicht. Ob die Sinfonie einen Schlusssatz hat oder nicht, ändert alles. Der tiefgläubige Anton Bruckner hat das Werk «dem lieben Gott» gewidmet. Undenkbar für ihn, dass es mit dem verdämmernden Adagio, also sozusagen mit dem Tod, schliessen würde. Der eigentliche Schluss konnte für Bruckner nur die Auferstehung sein, und diese findet nun im Jubel des vollendeten Finales auch statt.

Mehr als 100 Jahre nach den vielleicht doch etwas kriminellen Begleitumständen ihrer Entstehung hören wir nun Bruckners Neunte erstmals im Original. Oder in etwa 95 Prozent davon. Und vielleicht kommen die restlichen 5 Prozent dereinst noch auf einem Dachboden ans Tageslicht. Zitatende.

Zur Interpretation der Sinfonie durch Barenboim und seinem Orchester

Dirigent Daniel Barenboim Foto Priska Ketterer, LUCERNE FESTIVAL

Monumental, wuchtig, gar etwas zornig, so reichte uns Barenboim seinen Bruckner dar und ging, vor allem im ersten und dritten Satz, in der Lautstärke einige male nahe an die Schmerzgrenze. Klar, einen Buckner kann man nicht „piano“ umsetzen, aber da wäre etwas mehr Zurückhaltung dem Werk dienlicher gewesen und den Intentionen, der Zerrissenheit  des damals todkranken Komponisten gerechter geworden. Was solls, dem Publikum gefiel diese Wiedergabe durch das „Friedensorchester“ und es bezeugte das denn auch mit langanhaltendem, stürmischem Applaus der schlussendlich in eine stehende Ovation mündete, worauf Barenboim die einzelnen Register, besonders die Bläser, durch entsprechende Gesten besonders hervorhob. So durften diese denn auch einen Sonderapplaus abholen.

Szenenfotos,Sinfoniekonzert 6,West-Eastern Divan Orchestra, Kleine Fotodiashow von Priska Ketterer, Lucerne Festival:

fotogalerien.wordpress.com/2018/08/24/sinfoniekonzert-6-west-eastern-divan-orchestra-daniel-barenboim-elsa-dreisig/

Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch

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