Besetzung und Programm:
30. Luzerner Bühnenjubiläum von Riccardo Chailly
Valses nobles et sentimentales
Rezension:
Es war das Konzert zum 30. Luzerner Bühnenjubiläum von Riccardo Chailly, so lange tritt er schon in Luzern auf, früher als Gastdirigent mit diversen Orchestern, seit 2016 als Chefdirigent des Lucerne Festival Orchestra, dies in Nachfolge seines im Januar 2014 verstorbenen Landsmannes und Förderers Claudio Abbado. Dieser hatte, zusammen mit Festivalintendant Michael Häfliger, das Orchester ins Leben gerufen, dies basierend auf eine Idee und Initiative von Arturo Toscanini, der im Jahr 1938 mit dem legendären «Concert de Gala» gefeierte Virtuosen ihrer Zeit zu einem Eliteklangkörper vereinte.
Valses nobles et sentimentales
Die Suite, bestehend aus sieben eigenständigen Walzern mit fliessenden Übergängen, daher kaum einzeln aufführbar und einem Epilog, wurde 1911 für Klavier veröffentlicht, eine Version für Orchester folgte 1912. Die Uraufführung 1911 durch Louis Aubert im Salle Gaveau erfolgte im Rahmen einer Veranstaltung der Société musicale indépendante, bei der verschiedene Werke vorgestellt wurden, dessen Komponisten dem Publikum zunächst nicht bekannt waren. Dadurch sollte jedem Künstler eine unbefangene Beurteilung ermöglicht werden. Aufgrund ihrer Dissonanzen und gewagten Harmonik sorgten die Valses nobles et sentimentales allerdings für wenig Begeisterung beim Publikum. Es kam zu einigen Zwischenrufen, teilweise wurde das Werk sogar für eine Parodie gehalten.
Wiener Lebensfreude begeistert im Luzerner Konzertsaal
Hier adaptiert Ravel die Wiener Lebensfreude und diese scheint eindeutig auch dem Lombarden Riccardo Chailly inne zu wohnen. Das Orchester, spielfreudig wie immer, braust förmlich durch die verschiedenen Walzer, die Ravel mal stürmisch, mal ausladend majestätisch geschrieben hat. Der Epilog präsentiert gleich zu Beginn ein dunkles, schlichtes Hauptthema, das durchgängig in verschiedenen Tonarten wiederkehrt. Darauf werden ständig Motive der vorherigen Walzer aufgegriffen, die schließlich wieder im melancholischen Thema des Epilogs münden. Die Schwierigkeit des Epilogs liegt besonders darin, die abwechslungsreichen Themen der vorherigen Walzer im schwermütigen Hauptthema elegant einzuhüllen. Teilweise ist es nur mit dem Sostenuto-Pedal möglich, den Anweisungen Ravels völlig gerecht zu werden. Riccardo Chailly, manchmal gar leicht tänzelnd auf seinem Podium, war die gute Laune in jedem Augenblick anzusehen, seine Begeisterung und Freude, die sich auch auf seine Mitmusiker und das Publikum übertrug, förmlich greif- und spürbar. Dieses bedankte sich denn auch für das Gebotene mit reichlich Applaus.
La Valse
Ohne gross erkennbaren Unterbruch führte der Dirigent dann seine Mitmusiker dann in die sprühende, lebensfrohe Reminiszenz an den Wiener Walzerkönig Johann Strauss. In La Valse werden Elemente des Wiener Walzers aufgegriffen, die mit den Mitteln impressionistischer Harmonik und Rhythmik ausgeweitet werden. Dadurch sollte eine Art Apotheose des Wiener Walzers dargestellt werden, mit dem Ravel den „Eindruck einer fantastischen und tödlichen Art eines „Derwischtanzes“ verband. Die Intentionen des Komponisten wurden von den Protagonisten mit viel Spielfreude umgesetzt, was vom Auditorium mit dementsprechendem Applaus honoriert wurde, bevor man sich in die Pause begab.
2. Konzertteil Suiten Nr. 1 und 2 aus Daphnis et Chloé
Hier vertont Ravel, im Auftrag, für Sergei Diaghilevs „Ballets Russes“, einen spätantiken Liebesroman des griechischen Schriftstellers Longos, der die Geschichte der Findelkinder Daphnis und Chloe erzählt, die ihre Kindheit elternlos bei Hirten auf Lesbos erleben, voneinander getrennt werden, wieder zueinander finden, sich lieben und schließlich bei ihren Eltern glücklich leben. Das Lucerne Festival Orchestra unter Chailly präsentierte Ravels mit Abstand am größten instrumentierte Orchesterkomposition dezidiert als Schlüsselwerk der Moderne. Mit seinem sehr konsequenten und dynamischen Dirigat lässt der gebürtige Mailänder den lyrischen, melancholischen Momenten der Partitur durchaus ihren Raum, betont aber vor allem ihren experimentellen Klangcharakter, ihre Kleinteiligkeit, ihre vielen exotischen Farbsplitter, ihre fast überbordend dominant stampfenden Rhythmen.
Nicht nur für mich der absolute Höhepunkt des Konzertabends, obwohl ja dieser, vermeintlich, mit dem folgenden „Boléro“, noch bevorstand. Dies belegte der stürmische enthusiastische Applaus, garniert mit einzelnen Bravorufen.
Für den finalen „Boléro“ gibt’s eine glatte 10!!!
Bo Derek hätte sicher auch ihre Freude daran gehabt. Zitat von Maurice Ravel: „Ich habe nur ein Meisterwerk geschaffen, den „Boléro“; nur schade, dass keine Musik drinnen ist“. Natürlich war es absehbar, dass das bekannteste Werk von Maurice Ravel, der „Boléro“ für das Orchester und seinen Dirigenten zum Schaulaufen bestens geeignet ist. Die Komposition, der Tänzerin Ida Rubinstein gewidmet, ist ein einsätziger Tanz, sehr langsam und ständig gleich bleibend, was die Melodie, die Harmonik und den ununterbrochen von einer Rührtrommel markierten Rhythmus betrifft. Das einzige Element der Abwechslung ist das Crescendo des Orchesters. In einem viertaktigen Vorspiel bildet dieser Grundrhythmus den fast schon meditativen Beginn des Boléro. Von der kleinen Trommel intoniert und kaum wahrnehmbar von Pizzicato-Akkorden der tiefen Streicher gestützt. Schon in diesem Anfang zeichnet sich eine der Grundideen des Werks ab: Wiederholung als die Sache selbst, um die es geht. Der Schlagwerker hat den Rhythmus von hier an bis zum Ende des Stücks, also gut fünfzehn Minuten lang, unverändert durchzuhalten, in über 160 Wiederholungen – in dieser Hinsicht stellt der Boléro eine einzigartige Herausforderung innerhalb des „klassischen“ Konzertrepertoires dar. Ebenso konstant wie der Grundrhythmus ist das harmonische Begleitschema des Boléro gehalten, das auf der einfachsten aller Akkordbeziehungen beruht: Das melodische Geschehen wird, mit Ausnahme einer kurzen Ausweichung nach E in der Coda – stets und ausschließlich durch Tonika und Dominante (c-g) gestützt.
Reaktionen auf den Boléro bei der Uraufführung
„Hilfe! Ein Verrückter!“ soll eine Dame mittleren Alters ausgerufen haben, als sie aus der Uraufführung von Ravels „Boléro“ rannte. Trockene Entgegnung des Komponisten: „Die hat mich verstanden.“ Ob Anekdote, ob Legende, man kann es beiden nachfühlen, denn tatsächlich wagte Ravel sich weiter vor als je: Er schleust lediglich ein immer gleiches Ostinato im Boléro-Rhythmus mit sechzehn Takten Melodie durch alle möglichen (und manche nahe-unmöglichen) Orchester-Klangfarben, steigert dabei die Lautstärke, aber nicht das Tempo, und lässt das alles explosiv/eruptiv/orgiastisch (oder wie immer) enden – sonst könnte es wohl ewig so weitergehen. Cailly arbeitete die sich ablösenden Bläser schön heraus, hielt die Streicher bei ihren Pizzicato dezent im Hintergrund zum raffinierten Spannungsaufbau mit diesem Ostinato, das den Geniestreich von Ravel so einzigartig macht. Eine schon fast unerträgliche Gefühlsaufpeitschung, die schlussendlich mitten im Finale orgiastisch abbricht. Der nicht enden wollende Schlussapplaus kam denn auch prompt und endete in einer stehenden Ovation.
Text: www.leonardwuest.ch Fotos: www.lucernefestival.ch
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