Besetzung und Programm:
Luzerner Sinfonieorchester
Pinchas Steinberg, Leitung
Martin Helmchen, Klavier
Franz Liszt (1811 – 1886)
«Totentanz», Paraphrase über «Dies irae» für Klavier und Orchester
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Bedřich Smetana (1824 – 1884)
«Mein Vaterland» («Má vlast»), Zyklus sinfonischer Dichtungen
Man schrieb das Jahr 1965 als Frère Felix, Laienbruder im „Institut catholique des jeunes gens“ in Neuchâtel unser Interesse an klassischer Musik wecken wollte und uns (120 Schüler im Alter von 15/16 Jahren) dazu eines nachmittags im Refektorium versammelte. Er erläuterte uns, dass Komponisten manchmal mit ihrer Musik eine Geschichte erzählen wollen, er habe zur Erläuterung das Werk „Ma Vlast“ („Mein Vaterland“) des böhmischen Komponisten Bedrich Smetana ausgesucht bei dem dies besonders eindrücklich zu hören sei. Darauf postierte er ein grosses Grammophon auf dem Pult, zog eine Langspielplatte geheimnisvoll aus der Hülle, uns dazu erklärend, dass der Komponist u.a. den Weg der Moldau schildere, von Geschichten, die sich an deren Ufern abspielen und zwar von ihrer Quelle in Elbwiese im Krkonoše (Riesengebirge), zum Erreichen der goldenen Stadt Prag und schlussendlich bis zu ihrer Einmündung in die Elbe. Dann legte er die Platte auf den Plattenteller setzte die Nadel auf den Anfang und schon ertönten sanfte Harfenklänge.
Bravo und ein grand merci Frère Felix – Ziel erreicht
Frère Felix hat sein Ziel, zumindest bei mir, erreicht, ab da galt mein Interesse nicht mehr nur dem Rock n Roll, Freddy Quinn oder Johnny Hallyday. Bis heute begleitet mich diese sinfonische Dichtung und auch ich benutze sie gerne, um jemandem, mit ähnlichen Worten wie damals der Neuenburger Frère, Klassik zu erklären. Erstaunlicherweise kennen die meisten diese schon, oder zumindest teilweise, meist natürlich «Die Moldau» https://youtu.be/bWcoNzKRnrw?t=16
„Die Komposition schildert den Lauf der Moldau, angefangen bei den beiden kleinen Quellen, der kalten und der warmen Moldau, über die Vereinigung der beiden Bächlein zu einem Fluss, den Lauf der Moldau durch Wälder und Fluren, durch Landschaften, wo gerade eine Bauernhochzeit gefeiert wird, beim nächtlichen Mondschein tanzen die Nymphen ihren Reigen. Auf den nahen Felsen ragen stolze Burgen, Schlösser und Ruinen empor. Die Moldau wirbelt in den St.-Johann-Stromschnellen; im breiten Zug fließt sie weiter gegen Prag, am Vyšehrad vorbei, und in majestätischem Lauf entschwindet sie in der Ferne schließlich in der Elbe.“
Beim Konzert stand aber zuerst ein Werk von Franz Liszt auf dem Programm
«Totentanz», Paraphrase über «Dies irae» für Klavier und Orchester
Das Werk entstand 1847–1849 in Weimar und wurde in den Folgejahren von Liszt mehrfach überarbeitet, 1853 und 1859 besonders intensiv. Liszt schuf mehrere Versionen
Johann Wolfgang Goethe schrieb diese Ballade um 1813. Die siebenstrophige Ballade handelt davon, dass der Türmer nachts den Friedhof bewacht und das Auferstehen der Untoten aus ihren Gräbern beobachtet, die sich zu Mitternacht zum höllischen Tanz zusammenfinden. Ein Skelett provoziert den Türmer dabei so sehr, dass er selbst in Schwierigkeiten gerät.
Das Werk verbindet in Variationen ein Thema aus der Gregorianik (‚Dies Irae‘) mit einem wilden, rasenden Thema, dem des Totentanzes. Satzgrenzen gibt es für Liszt nicht mehr, das ganze musikalische Geschehen spult sich scheinbar unaufhaltsam düster und tröstlich-strahlend ohne Unterbrechung vor einem ab, auch wenn es immer wieder intensive Momente der Besinnung gibt. ‚But no rest for the wicked‘, sofort bricht der eigentliche Totentanz wieder hinein.
Natürlich muss der Solist hochvirtuos spielen können, besonders in den ‚Tanz‘-Passagen. Aber wie immer bei Liszt ist es damit nicht getan. Virtuosität nicht als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung, als Beherrschung des Handwerks.
Es fasziniert immer wieder, wie modern Liszt z.B. in seinen Klavierkonzerten (und rechnet man den ‚Totentanz‘ einfach mal mit dazu) oder auch der h-Moll-Sonate ist, wie er die formalen Strukturen der Klassik und Romantik (z.B. was den Aufbau in Sätzen angeht) aufbricht, obwohl er inhaltlich weiterhin ganz der Romantik verpflichtet ist. Da steht jemand an einem Wendepunkt der musikalischen Entwicklung, bzw. treibt sie auch voran. Gleiches gilt aber auch für mein Empfinden für die Intensität im Ausdruck. Das Werk enthält zahlreiche technische Schwierigkeiten, wie z.B. schnelle Glissandi, Ton Repetitionen, atemberaubende Sprünge in Oktaven, und so weiter.
Totentanz wird Helmchens superber Tastentanz
Ob hingeknallte Harmonien, explosive Staccato oder filigrane Läufe, Martin Helmchen wendet alles meisterhaft an, wenn er sich in der Partitur vergräbt und in seine Welt der 88 Tasten eintaucht. Das Luzerner Sinfonieorchester ermöglichte des Solisten Entfaltungsmöglichkeit mit seinem dichtgewobenen Klangteppich. Helmchen, mal herrisch aufbrausend, dann nachdenklich hingebungsvoll modulierend, ob die Tasten streichelnd oder traktierend, der perfekte Hörgenuss war es immer. Spektakulär bombastisches Finale mit den alles überfliegenden Fanfaren der Posaunen, dem mächtigen Tutti und letzten kraftvollen Läufen von Helmchen.
Das begeisterte Publikum bedankte sich für diese Parforceleistung mit einer kräftigen, langanhaltenden Akklamation bei den Protagonisten.
Darauf wurden die ersten drei Teile von Smetanas «Vaterland» intoniert
Smetanas sinfonische Dichtung «Ma Vlast»
Wenn Harfen sonst mal ein Arpeggio einstreuen dürfen, gehört ihnen hier zu Beginn die vollste Aufmerksamkeit beim magischen Anfang! Mit den poetischen Harfenklängen eines Barden beschwört Friedrich Smetana gleich zu Beginn von „Mein Vaterland“ eine mythische Stimmung aus uralter Zeit herauf. Pinchas Steinberg gibt den Luzerner Musikern alle Zeit der Welt, ihre Instrumentalfarben nach und nach ins Geschehen einzubringen und ihre gerühmten Qualitäten auszuspielen: das runde Blech, das warme Holz, den edlen Streicherklang. Gemeinsam lassen sie in der ersten Tondichtung die sagenhafte Prager Königsburg auf dem Berg Vyšehrad in all ihrer Pracht erstrahlen.
Verblüffender Nuancenreichtum
Auch das bekannteste Stück des Zyklus, „Die Moldau“, hört man bei Steinberg und den Luzerner Sinfonikern mit einem Nuancenreichtum, der verblüfft. Selten erlebt man es, dass ein Dirigent derart genau im Detail arbeitet – und mit flexibler Tempogestaltung doch dem freien Atem der Musik folgt, ihrem natürlichen Fluss. Steinberg entdeckt in der „Moldau“ vorimpressionistische Stimmungen und lässt die Paare in der Bauern-Polka graziös ihre Runden drehen.
Lodernde Dramatik
So wird aus einem abgespielten Klassik-Hit wieder ein spannendes Hörstück. Einen schroffen Kontrast dazu bildet in „Mein Vaterland“ die dritte Episode um die Maid Šarka und ihr männermordendes Amazonenheer. Mit federnder Energie entwickelt der Dirigent hier lodernde Dramatik.
Das Auditorium spendete stürmischen Beifall bevor es die Musiker in die kurze Pause entliess.
Idyllisches Naturbild
Ähnlich wie die „Moldau“ zeichnet auch der vierte Teil „Aus Böhmens Hain und Flur“ ein idyllisches Naturbild. Mit leidenschaftlicher Hingabe und fein ausgehörten Details kostet Steinberg Smetanas Melodienreichtum wunderbar aus. Wem da nicht das Herz aufgeht …
Verinnerlichte Lesart
Pinchas Steinbergs Sehnsuchtston geht unter die Haut, seine verinnerlichte Lesart von Smetanas „Vaterland“ entfaltet eine zarte Melancholie. Seine breiten Tempi vermag er mit seinen Musikern beseelt auszufüllen. Auch in den letzten beiden Teilen des Zyklus, die den Freiheitskampf der Hussiten verherrlichen, meidet der Dirigent heroisches Säbelrasseln und nationales Pathos. Stattdessen verströmt der Zyklus hier kitschfreies Heimatgefühl fern aller folkloristischen Klischees. Mit echter Hingabe, hoher Spielkultur und glutvollem Klang folgen die Luzerner Musiker ihrem Gastdirigenten.
Magisch, welche Energie der 76-jährige istaelischstämmige Gastdirigent noch aufbringt. Das Publikum geizte denn auch nicht mit stürmischem Schlussapplaus, zu einer stehenden Ovation reichte es dann aber doch nicht.
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: www.sinfonieorchester.ch
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