Das Ausstellungsformat Collection on Display präsentiert Werke aus der Sammlung des Migros Museum für Gegenwartskunst als dreiteilige Themenreihe unter dem Titel Communities, Rules and Rituals. Die erste Ausstellung, Communities, stellt künstlerische Positionen ins Zentrum, die sich mit Fragestellungen rund um das Thema «Gemeinschaft» auseinandersetzen – sozialen Gruppen, die sich über gemeinsame Ansichten, Werte und eine innere Verbundenheit definieren.
Der Begriff «Gemeinschaft» gehört zu den meistbenutzten Schlagwörtern der Moderne. In der Alltagssprache ist «Gemeinschaft» grundsätzlich positiv konnotiert und gilt als Gruppierung, innerhalb der es emotionale Verbundenheit, Vertrautheit und/oder Geborgenheit gibt. Die «Gemeinschaft» erscheint heute oftmals als utopisches Gegenmodell der modernen «Gesellschaft», welche mit Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Sinnverlust einhergeht. Die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen «Gemeinschaft» und «Gesellschaft» wurde vom Soziologen Ferdinand Tönnies Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Tönnies war es auch, der die beiden Begriffe so definierte, wie wir sie heute verstehen. So steht «Gemeinschaft» für gefühlsmässige, dauerhafte Verbindungen von Menschen, während «Gesellschaft» rationale, zweckgerichtete Assoziationen verkörpert. Das Kategorienpaar wurde in den Folgejahrzehnten immer stärker in einer einseitigen kulturpessimistischen Perspektive rezipiert und schliesslich vom Nationalsozialismus vereinnahmt, was den Begriff «Gemeinschaft» – zumindest im wissenschaftlichen Kontext– deutlich negativ prägte. Seit den gesellschaftlichen Entwicklungen der 1970er Jahre taucht der Begriff wieder vermehrt auf. Generell hat «Gemeinschaft» als realpolitisches Konzept oder als utopischer Gegenentwurf zur bürgerlich-modernen Gesellschaft in Krisenzeiten immer Hochkonjunktur, denn nichts ist politischer als die Frage nach dem «Wir».
Einen Gegenentwurf zur bürgerlichen Gesellschaft präsentiert seit Mitte der 1990er das Atelier van Lieshout. Basierend auf der Idee einer autarken Lebensweise und einem System absoluter Unabhängigkeit, produziert das Atelier van Lieshout Objekte, Möbel und Architekturen– so etwa AVL-Shakertable, AVL-Shakerchair, AVL-Men (1999) –, welche auch als funktionale Lösungen für ein Leben in einer Gemeinschaft ausserhalb der angestammten Regeln der Gesellschaft zu verstehen sind. Früh tauchten in der Welt des Atelier van Lieshout auch Waffen auf, beispielsweise in Form von Bauanleitungen: Ohne Titel (Projekt AVLM 80–Moutier) (1999). Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass ein zentrales Moment in der Logik der Vergemeinschaftung die Abgrenzung gegenüber einem Aussen ist und dass im äussersten Fall Gewalt angewendet würde, um die eigenen Werte und Lebensweisen zu schützen.
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Auch in Alicia Framis’ Arbeit Minibar (2000) spielt das Konzept von Einschluss/Ausschluss eine zentrale Rolle. In diesem Fall werden Frauen in einem Raum willkommen geheissen, der ganz auf Entspannung und Wohlgefühl ausgerichtet ist. Die Betrachterin, welche den modularen Raum betritt, wird damit für einen Moment Teil einer Gemeinschaft, wie sie sich in unserer Gegenwart immer häufiger konstituiert: einer Gemeinschaft, in welcher der Einzelne nicht permanent eingebunden ist, sondern die fluid und ereignisorientiert, orts- und zeitgebunden ist und sich unvermittelt wieder auflösen kann.
Auf einen speziellen Typus geschlossener Gemeinschaft bezieht sich die Arbeit von Daniel Knorr: Site Inspection (2005) besteht aus einer Sammlung von 33 Fahnen von Studentenverbindungen aus Göttingen. An diesem Werk lässt sich besonders gut nachvollziehen, was es – neben gemeinsamen Werten und Überzeugungen – braucht, um den Zusammenhalt einer Gemeinschaft auf Dauer zu gewährleisten: nämlich eine Art von Rausch (die «kollektive Efferveszenz», wie es Émile Durkheim nennt), der in wiederkehrenden kollektiven Riten immer wieder hervorgerufen wird. Die Fahne dient der Verbindung nicht nur als Symbol der Zusammengehörigkeit
und der geteilten Weltsicht, sondern besitzt auch den Status eines Kultobjektes, wie man es aus religiösen Zusammenhängen kennt. Die Gebrauchsspuren und Flecken auf den Fahnen lassen darauf schliessen, dass diese Bestandteil ritueller Handlungen waren. Phil Collins’ Fotografien unter dem Titel drumcree (2000–2002) widmen sich jenen Konflikten, welche die Durchsetzung solcher Zeremonielle gegen den Widerstand anderer Gemeinschaften hervorrufen.
Gemeinschaften gehören essenziell zum Menschen – ob es sich um die Familie (die prototypische Gemeinschaft) handelt, für welche das Video Catch (1997) von Steve McQueen in der Ausstellung steht, oder um eine soziopolitische Gruppierung wie die der «Arbeiterschaft», worauf das Werk von Cady Noland, Ohne Titel (Brick Wall) (1993–1994), verweist. Shirana Shahbazi hinterfragt in ihrer Fotoserie Goftare Nik/Good Words (2000–2001) den Blick auf das Fremde – aus westeuropäischer Sicht. Wie interpretiert eine Person, die sich im Prozess der Sozialisation eine Sprache, eine Bandbreite an sozialen Praktiken und verbindlichen Wertideen einer kulturellen Gemeinschaft erworben hat, Zeichen und Gesten, die auf einer anderen kulturellen Prägung basieren?
Ein zentrales Gut von Gemeinschaften, welches für die Ausbildung einer personalen Identität grösste Bedeutung hat, ist die Sprache. Wenn dominante Mehrheitskulturen anderen Gemeinschaften das Recht absprechen, ihr eigenes Idiom zu sprechen oder andere kulturelle Ausdrucksformen wie Lieder, Feste, Bräuche verbieten – beides konstitutive Elemente von Gemeinschaften–, hat dies nicht nur Folgen für die kollektive, sondern auch für die individuelle Identität. In Werken wie Vom Aroma der Namen (1985) macht Lothar Baumgarten zum einen den Zusammenhang von Sprache und ethnischer Identität deutlich, verweist aber auch auf Fremdzuschreibungen. Das Manifest der Autistin Amanda Baggs, das die Grundlage für Wu Tsangs Video The Shape of a Right Statement (2008) ist, thematisiert, weshalb jemandem, der sich nicht verbal ausdrücken kann, das Person-Sein abgesprochen wird – obwohl andererseits niemand den Versuch unternimmt, die Sprache, das Denken, das In-der-Welt-Sein eines autistischen Menschen zu verstehen oder zu erlernen. Tsang kritisiert damit konservativ-normierende Tendenzen, die jene Gemeinschaftsmitglieder delegitimieren, die anders sind oder anders sein wollen, und verweist auf Diskriminierungen, denen sprachliche Strukturen zugrunde liegen.[content_block id=29782 slug=ena-banner]