Ich hatte alles ausgehalten – vielleicht zu lange. Warum? Es war mir weh ums Herz beim Gedanken, meine sanftmütige, fröhliche Ahyoka mit den zwei Kleinen zu verlassen. Die Welt um uns hatte sich aber stark verändert.
Das Ende von New Helvetia
Man baute in der Sierra ein Wegenetz aus, mit Stützpunkten und Hilfeleistungen. Hunderttausende kamen auf den ausgetretenen Pfaden herüber. Es war kein Vergleich mit den lebensgefährlichen Reisen in den Pionierjahren. Gewalttätige Einwanderer – Squatters genannt – besiedelten ohne Erlaubnis neue Gebiete, rodeten die Wälder, stahlen das Vieh von unserer Farm. Sie zur Rechenschaft zu ziehen war gefährlich; ein geladenes Gewehr hatten sie immer in Reichweite. Sutter wusste weder aus noch ein. Er wollte Land verkaufen und unterschrieb Vollmachten, um wenigstens Bargeld zu bekommen. Die meisten Farmen waren aber schon verpfändet, er hätte sie gar nicht verkaufen dürfen. Er verhandelte allerdings wieder mit Betrügern, die keine Vorzahlung leisten konnten, und es wurde nichts aus dem Verkauf. Wer wollte eigentlich wen bei diesen Geschäften reinlegen?
Als wir einmal mit der Barkasse zum Hafen hinunterruderten, wehte dort schon die amerikanische Fahne und rundherum hielten Yankee-Soldaten die Wache.
»Yerba Buena nau american?«, fragte ich einen von ihnen erstaunt.
»Notting Yerba Buena, feller. San Francisco!« antwortete er stolz, mit ebenso schlechtem Englisch.
Kalifornien wurde also ein Bundesstaat von Amerika. Wir hofften alle, dass die Gesetzlosigkeit ein Ende nehmen würde und Sutter erwartete von der Regierung Schadenersatz für seine grossen Verluste in der Landwirtschaft und eine Beteiligung am Goldgewinn: viele Millionen Dollar!
Er begann einen endlosen Kampf gegen den amerikanischen Staat.
Sollten die Landschenkungen des besiegten Mexiko von den USA anerkannt werden? Diese schwierige Frage konnte vorläufig niemand beantworten. Winkeladvokaten und ähnliche Wortverdreher witterten jedoch gleich das grosse Geschäft und kamen in Scharen zu uns; unzählige Schriftstücke wurden aufgestellt und weitergeleitet.
Washington aber – ohne vorerst irgendwelche Landansprüche gelten zu lassen – erkannte Sutters Hilfeleistungen für die amerikanischen Einwanderer und gab ihm einen pompösen Titel: Er wurde Generalmajor der kalifornischen Miliz.
Zum wievielten Male eine neue Anrede? Dieser Titel war allerdings der schönste.
Major-General John A. Sutter – nur ein Ehrenamt
Leider war es mit hohen Kosten verbunden. Der titelsüchtige Mann wurde aber in seiner eigenen Eitelkeit gefangen und ein letztes Mal kamen in ihm Glücksgefühle auf. Es war wieder wie in vergangenen Zeiten: grosse Feste mit erlesenen Weinen und Zigarren für die Gratulanten, Paradeuniformen für sich selbst und seine wenigen Angestellten. Gott weiss, wo er erneut Geld auftreiben konnte, seine Kasse war ja leer; wir Schweizer wussten es am besten.
Ich war empört. Während die Taugenichtse mit Pasteten gefüttert wurden, konnte er seit Jahren keinen Sold zahlen. Er gab uns höchstens hie und da ein kleines Stück Ackerland, was aber niemand kaufen wollte. Ich fühlte mich auch einsam; die anderen Schweizer waren schon von dannen und die rohen Sitten der Squatters widerten mich an.
Als ich mich endlich entschied, in die Heimat zurückzukehren, hatte Sutter schon alles bereut und mit Tränen in den Augen nahm er Abschied von mir.
»Ich war so dumm … sie betrogen mich vorne und hinten.«
Wie wahr! Viele Schurken hatte er reich gemacht – den wenigen, die ehrlich waren, konnte er bloss freundliche Worte geben.
Ich dachte ernsthaft daran, Ahyoka und die Kleinen mitzunehmen. Sutter gab mir den Rat: »Tu es nicht! Sie würden in deinem Schweizer Dorf zugrunde gehen. Lass sie zu ihrem Stamm zurückkehren! Sie ist jung, wird noch einen neuen Mann finden. Es ist besser so für alle.«
Wie Recht er hatte! Ausgestossen, unverstanden in einer fremden Welt zu leben ist für Indianer schlimmer als der Tod.
Einmal war es so weit. Ich drückte die letzten Goldklümpchen, die ich insgeheim bewahrte, in Ahyokas Hand, küsste die halbnackten Kleinen, die friedlich im Staub spielten und marschierte mit meinen Siebensachen den Hügel hinunter zu New Helvetia. Es hiess jetzt Sacramento-City und war die Hauptstadt von ganz Kalifornien. Auf dem Fluss ruderte ich zum Hafen, der immer amerikanischer wurde, man hörte kaum mehr ein spanisches Wort. Bald ergab sich die Gelegenheit, mit einem Frachtschiff als Hilfsmatrose ohne Bezahlung die grosse Reise anzutreten.
Ich ging so arm heim wie einst gekommen.
In meinem Heimatdorf war fast alles beim Alten
Die Eltern lebten nicht mehr, ihr kleines Bauernhaus hatte ich ausgebessert und in Besitz genommen. Oft dachte ich mit Wehmut an meine Indianer-Familie zurück: Werden meine Kinder sich ans freie Leben gewöhnen können? Wird der Stamm noch genug Jagdgründe haben?
Doch die Erinnerungen wurden nach einer Weile blass, und die Zukunft schien mir immer wichtiger. Mit 40 Jahren konnte ich noch ans Heiraten denken und hoffen, dass ich meine Schweizer Kinder heranwachsen sehe.
Nachrichten aus Amerika erreichten mich hie und da.
Der arme General war den brutalen Neusiedlern im Weg. Als sie zuletzt sein Wohnhaus in Brand steckten, machte er sich auf nach Washington, um für seine Sache zu kämpfen. Irgendeine Pension aus Gnade wurde ihm vorläufig zugesprochen, doch die Gesetzvorlage zu seinen Gunsten wurde vom Kongress immer wieder vertagt.
In der Basler Zeitung las mein Sohn neulich einen kurzen Bericht über seinen Tod in der amerikanischen Hauptstadt. Er starb wohl an gebrochenem Herzen.
Ich grübelte viel über Sutter – seine Laufbahn hatte Höhen und Tiefen erreicht wie kaum bei einem anderen Menschen.
Wer war er wirklich?
Ein echter Pionier und Held, wie wir ihn in seinen grossen Jahren erlebten – oder ein Kleinkrimineller, der in der Schweiz steckbrieflich gesucht wurde?
Einerseits war er ein Prahler und Lügner – andererseits ein guter Mensch, das kann ich selbst bezeugen. Aber wie konnte er seine eigene Familie jahrelang in der bittersten Armut leben lassen?
Er verstand nichts von der Industrie, trotzdem schuf er Werkstätten, Fabriken, Mühlen und damit die Anfänge der kalifornischen Industrie.
Ohne landwirtschaftliche Erfahrung hatte er den Mexikanern bewiesen, dass man im grossen Binnental Weizen anbauen kann. Später zeigten seine prächtigen Obstanlagen den Amerikanern, was der gesegnete Boden dort hergibt.
Ordnungsgemäss Geschäft führen konnte er nie, sonst wäre er vielleicht der reichste Mann Amerikas geworden.
Er war ein Betrüger und wurde selbst während seiner glanzvollen Laufbahn so oft bitter betrogen!
Soldat war er am allerwenigsten, trotzdem beendete sein Leben als Major-General der amerikanischen Armee.
All diese Widersprüche in Sutter haben mich immer wieder beschäftigt und über meine eigenen Gefühle war ich nie im Klaren. Habe ich ihn bewundert, verachtet oder beneidet?
Zuletzt ganz gewiss tief bedauert.
Er war ein Mensch voller Wiedersprüche – wer wird ihn jemals verstehen?
Anno Domini 1880
Text. www.annarybinski.ch
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Link auf den ersten Teil der SUTTER Story von Anna Rybinski:
SUTTER THE SWISS Eine historische Geschichte 1. Teil von Anna Rybinski
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SUTTER THE SWISS Eine historische Geschichte von Anna Rybinski 2. Teil Sutter gründet ein Reich
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SUTTER THE SWISS, eine historische Geschichte von Anna Rybinski 3. Teil, Die Welt im Rausch