Besetzung und Programm:
Swiss Orchestra
Lena-Lisa Wüstendörfer, Leitung
Marie-Claude Chappuis, Mezzosopran
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809 – 1847)
Ouvertüre zu «Das Märchen von der schönen Melusine», op. 32
Joseph Joachim Raff (1822 Lachen – 1882)
Zwei Scenen, op. 199 sowie «Traumkönig und sein Lieb», op.66
für Singstimme und Orchester
Cavatina aus «Six Morceaux», op. 85 Nr. 3,
arrangiert für Violine und Orchester von Edmund Singer (1874)
Richard Wagner (1813 – 1883)
«Träume» aus den Wesendonck-Liedern, Fassung für Violine und Orchester, WWV 91B
August Walter (1821 – 1896 Basel)
Sinfonie in Es-Dur, op. 9
Die frisch restaurierte, altehrwürdige Tonhalle
Vier Jahre in der Tonhalle Maag liegen hinter uns, in einem Interims-Konzertsaal, der viel junges Publikum angezogen hat, der die Schwelle zum klassischen Konzert tief gelegt hat. Und jetzt also der Einzug in den neu renovierten Saal mit seinem Komponistenhimmel, mit glitzernden Kristallleuchtern, mit Gold und Stuck, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts als Monument des Bürgerstolzes.
Diesen Saal will das Tonhalle Orchester nun «wie ein Instrument neu einstimmen», sagte Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und fügt hinzu «Wir hoffen, dass wir das jüngere Publikum, das wir dort neu gewonnen haben, mitnehmen können in die renovierte Tonhalle. Hier spüren wir eine besondere Verantwortung.». Die neue Tonhalle positioniert sie in der gleichen internationalen Liga wie das Konzerthaus des Wiener Musikvereins, das Concertgebouw in Amsterdam oder die Symphony Hall Boston – alles Säle, die im gleichen Stil erbaut sind. Schmiel nennt sie mit liebevollem Unterton «Schuhkartons». Und: Sie alle beherbergen Orchester, die ihre Heimstätten im Namen tragen, wie das Tonhalle-Orchester Zürich.
Statement der Orchestergründerin zum Programm
Die Schweizer Kunstmusik aus der Klassik und Romantik fristet auch im 21. Jahrhundert immer noch ein Schattendasein. Ein bedauerlicher Fakt, findet Lena-Lisa Wüstendörfer, die Dirigentin, promovierte Musikwissenschaftlerin und Gründerin des Swiss Orchestra. Die beiden vorliegenden Werke aus der Schweizer Romantik wurden von ihr in intensiven Recherchen ausfindig gemacht und können nun dank der DEBUT Produktion von Schweizer Fonogramm einem breiten Publikum vorgestellt werden.
Inspiration durch landschaftliche Schweizer Schönheiten
Die Schönheit der Schweiz hat nicht nur Dichter inspiriert, sondern auch zahlreiche Komponisten aus dem In- und Ausland. Dirigentin und Musikwissenschaftlerin Lena-Lisa Wüstendörfer spürt diese Schätze unbekannter Schweizer Komponisten in Archiven und Bibliotheken auf und erweckt sie in einem attraktiven Konzertformat zum Leben. In der Tonhalle stellte das Orchester vier Tonschöpfer vor, deren Biografien eng miteinander verwoben sind und für die die Schweiz als Heimat, Zufluchtsort, Reiseland oder Inspirationsquelle eine bedeutende Rolle spielte.
Neugierig auf die renovierte alte Dame an der Claridenstrasse
Äußert gespannt, wie sich die für 180 Millionen Franken renovierte Tonhalle präsentiert, machte ich mich mit dem Zug auf nach Zürich für das Konzert des Swiss Orchestra“, betitelt als „Schatzkammer Schweizer Sinfonik». Neugierig auf die Werke der beiden, mir relativ unbekannten Schweizer Komponisten, betraten wir die frisch herausgeputzten und trotzdem irgendwie vertrauten ehrwürdigen Hallen des Prunkbaus in unmittelbarer Seenähe und stellten fest, dass sich doch eher das typische «Tonhallenpublikum» für das Konzert eingefunden hatte.
Felix Mendelssohn Bartholdy Ouvertüre zu «Das Märchen von der schönen Melusine», op. 32
Grundlage für das Werk war Conradin Kreutzers Oper Melusina in Berlin: Melusine ist eine mythische Sagengestalt des Mittelalters. Im Erzählkern handelt die Sage davon, dass Melusine einen Ritter unter der Bedingung eines speziellen Betrachtungstabus heiratet, demzufolge er sie nicht in ihrer wahren Gestalt sehen soll: der einer Wasserfee, meist mit Schlangenleib. Melusine wird zur Quelle seines Ansehens und Reichtums, bis der Ritter das Tabu bricht.
Konzentration auf das Sagenhaft Allgemeine
Die Ouvertüre konzentriert sich aufs „Sagenhaft-Allgemeine“ und breitet in jedem Teil der sonatensatzförmigen Anlage einmal, im Ganzen also dreimal, den Gegensatz der unvereinbaren Sphären aus. Man ist versucht, diese Interpretation produktionsästhetisch zu begründen und philosophisch zu grundieren und meint zu wissen, dass Mendelssohn in seinen Ouvertüren allmählich auf Distanz zu der Äußerlichkeit gegangen sei, auf die ihre Titel verweisen, und mehr und mehr deren Innerlichkeit offengelegt habe. In der Märchenouvertüre sei diese Tendenz an ihr Ziel gekommen. Hier verzichtet er gänzlich darauf, den äußerlichen Verlauf des Märchens wiederzugeben, und zieht sich ganz auf dessen innerliche Voraussetzung und Veranlassung zurück.Mendelssohn , so Zitat Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, trete hier „von einem an sich schon klaren Gehalt“ zurück in die eigene Freiheit des Inneren“. Das erschwere allerdings den Wissenschaftlern und Hörern unserer Tage „die ‚richtige‘ Deutung, das ‚richtige‘ Verständnis der Stücke“, da sie nicht mehr so dächten und fühlten wie Mendelssohn. Zitatende.
Wellenfigur als Leitmotiv
Das Ganze beginnt und schließt mit einer zauberischen Wellenfigur, die im Verlauf einige Mal auftaucht und so wirkt, als würde man vom Kampfplatze heftiger menschlicher Leidenschaften plötzlich hinaus in das großartige, erdumfassende Element des Wassers versetzt, namentlich von da wo es von As durch G nach C moduliert. Der Rhythmus des Ritterthemas in F Moll gewinnt durch die Tempovariation an Stolz und Bedeutung. Gar zart und anschmiegend klingt uns noch die Melodie in As nach, hinter der wir den Kopf der Melusina erblicken. Von einzelnen Instrumentaleffekten hören besonders erwähnenswert das schöne B der Trompete (gegen den Anfang), das die Septime zum Akkorde bildet; — ein Ton aus uralter Zeit. Dies alles souverän dargereicht von den Protagonisten und hefztig beklatscht vom Publikum im gut gefüllten Saal.
Joachim Raff Zwei Scenen, op. 199 sowie «Traumkönig und sein Lieb», op.66
für Singstimme und Orchester
In der nun folgenden kurzen Begrüssungsansprache der Dirigentin erwähnte diese, dass sie bei ihren Recherchen zufälligerweise entdeckt habe, dass Aufgust Walter der Grossvater eines Onkels der Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis war. Ebendiese gesellte sich nun zum Orchester für die folgenden drei Lieder, die alles andere, als «leichte Kost» waren.
Die Hirtin und die Jägersbraut
Das Orchester breitete den «Soundteppich» für die Sängerin dicht, kräftig, aber auch mit der nötigen Zurückhaltung, auf dem sich die vielfach ausgezeichnete Mezzosopranistin souverän gesanglich bewegen konnte, dies unter dem immer klaren, souveränen Dirigat von Lena – Lisa Wüstendörfer.
Traumkönig und sein Lieb
Die aus Fribourg stammende Mezzosopranistin glänzte besonders beim «Traumkönig» mit schönen Koloraturen und im wechselseitigen Dialog mit den vorwitzigen Oboen supportiert vom glänzenden, spielfreudigen Orchester, welches ab 1. Januar 2022 auch das Residenzorchester der Andermatt Konzerthalle wird.
Die Lieder waren nicht optimistisch freudig, sondern eher melancholisch, sehnsuchtsvoll nachdenklich. Die Solistin brachte diese innere Sehnsucht perfekt rüber, phrasierte gefühlvoll, trotzdem ausdrucksstark und artikulierte klar und verständlich, intonierte bombensicher in alle Lagen und konnte sich dabei immer auf die Kongenialität ihrer Mitmusiker verlassen, die von Dirigentin Wüstendörfer stilvoll zurückhaltend durch die Partitur geführt wurden.
Dass Auditorium geizte denn auch nicht mit entsprechendem Applaus.
Cavatina aus «Six Morceaux», op. 85 Nr. 3
Dieses, damals sehr populäre Werk, hatte es sogar ins Repertoire (heutzutage Playlist genannt) des Salonorchesters auf der »Titanic» geschafft und wurde an diesem Konzert mit dem jungen kasachischen Konzertmeister Sherniyaz Mussakhan als Solisten intoniert.
Er stellte sich den technischen Herausforderungen mit Bravour und liess Raffs Musik ein Äußerstes an Sorgfalt und Einfühlung zuteilwerden. Explizit im ausladenden Kopfsatz der Sonate nutzte er die gewährte Freiheit zum Ausspielen der Kontraste nuancenreich mit sehr viel Feingefühl.
Das sachkundige Publikum bedankte sich mit langanhaltendem Applaus für den Hörgenuss und begab sich gutgelaunt in die Foyers zur Pause.
2. Konzertteil mit Wagner und Walter
Richard Wagner «Träume» aus den Wesendonck-Liedern
Diese akustische Liebeserklärung Wagners an Mathilde Wesendonck, benutze er später in seiner Oper «Tristan & Isolde» als Grundlage für das Liebes Duett in As-Dur zu Beginn des 2. Aktes.
August Walter Sinfonie in Es-Dur, op. 9
Dieses viersätzige Werk erwies sich als wahre «Trouvaille», als Volltreffer beim Wüsterdörferschen Stöbern in der Schatzkammer der Schweizer Sinfonik.
Laut beschrieb des Swiss Orchestra wurde Walters Sinfonie in Es-Dur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum kontinuierlich aufgeführt und galt als eines seiner Hauptwerke. Heute sei sie gänzlich aus den Konzertsälen verschwunden.
1 Allegro vivace
3 Andante cantabile
4 Scherzo. Vivace
5 Finale. Andante maestoso
Das Hauptthema des 6/8-Kopsatzes mit seinen lebensvollen Fanfaren in gebrochenen Dur-Dreiklängen trägt den ganzen Satz über den Geist des freudig beschwingten Aufbruchs. Der langsame Satz ist von schmachtend liedhaften Themen beherrscht. Als eine Art Trio/Intermezzo erklingt ein Abschnitt mit erregt wirkenden 16teln in den Streichern. Diese Passage ist geprägt von nervös drängendem Gestus. Unter leisem Trommelwirbel erzeugen schließlich Klarinette & Fagott geradezu geisterhafte Szenerien. Hernach Rückkehr zum wiegenden Liedthema. Formal also äußerst interessant. & nicht nur formal. Das Scherzo birgt in seinem Trio hübsche Horn-Fanfaren. Diese steigern sich im Verlauf zu hymnischer Größe. Die streicherdominierten Rahmenteile stehen in grüblerischem Moll.
Langsame Überleitung ins Finale
Die langsame Einleitung des Finales wechselt bald in ein von den Streichern in freudig-festlichem Allegro angeschärften Hauptthema in synkopiertem Rhythmus. Zwischenzeitlich werden tapsige Oktavsprünge des Solo-Fagotts begleitet durch ein von den Streichern gestaltetes Seitenthema. Ein abwechslungsreicher Widerstreit der einzelnen Stimmen sorgt für immer neue Kontraste. Bläser gegen Streicher, jäh dreinfahrende Sforzati, dann wieder subito piano-Passagen. Dieses Finale bildet sicher den Schwer-& Höhepunkt des Werkes. Das Orchester, durch die Partitur manövriert von Kapitänin Lena – Lisa Wüstendörfer spielte auf absoluten Topniveau und mit offensichtlicher Spielfreude
Fazit
Ein alles andere als gewöhnliches Konzert, das trotz nicht viel gehörten Werken, irgendwie vertraut wirkte. Schwang da in unseren Hinterköpfen doch irgendwie ein «Made in Switzerland», ein gewisser Chauvinismus mit?
Bewundernswert auch, dass Orchesterchefin Wüstendörfer ihr Konzept konsequent durchzieht mit der Schweizer Sinfonik und nicht als quasi «Erfolgsgarant» im zweiten Konzertteil doch einen «Gassenhauer» in Form einer bekannten Sinfonie eines der grossen Komponisten einstreut, statt der unbekannteren von August Walter.
Schatzkammer Schweizer Sinfonik – Joachim Raffs ‚Traumkönig und sein Lieb‘ op. 66
https://www.youtube.com/watch?v=Sr15FuhbkFc
Text: www.leonardwuest.ch
Fotos: https://swissorchestra.ch
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