Musikalische Leitung Titus Engel Inszenierung Lydia Steier
Bühne Flurin Borg Madsen Kostüme Ursula Kudrna
Video Tabea Rothfuchs Licht Stefan Bolliger
Ton Cornelius Bohn Chor Michael Clark
Dramaturgie Pavel B. Jiracek
Ensemble
Mary Godwin Kristina Stanek
Percy Bysshe Shelley Rolf Romei Paul Curievici
Claire Clairmont, Stiefschwester von Mary Sara Hershkowitz
Lord Byron Holger Falk
Dr. John Polidori, Byrons Leibarzt Seth Carico
Augusta Leigh Samantha Gaul
Physiker des CERN Chor des Theater Basel
E-Gitarre Yaron Deutsch
Steamboat Switzerland
Dominik Blum Lucas Niggli Marino Pliakas
Statisterie des Theater Basel
Es spielt das Sinfonieorchester Basel
Rezension:
Am 21. Februar fand die Welturaufführung des Auftragswerkes «Diodati.Unendlich» im Basler Theater statt.
Eine Gruppe literarisch ambitionierter Briten begibt sich im Jahr 1816 auf der Suche nach der «erhabenen» Natur in die Schweiz – darunter der Autor Percy Shelley und seine spätere Frau Mary, die romantische Kultfigur Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori. Doch das katastrophale Wetter des legendären «Jahres ohne Sommer», die Folge eines Vulkanausbruchs in Indonesien, zwingt die Freunde, acht Tage lang in einer Villa am Genfersee auszuharren. Dort erzählen sie sich selbstverfasste Geschichten über fremdgesteuerte Kreaturen, in denen sich die Abgründe ihrer eigenen Persönlichkeit spiegeln.
Ausgehend von dieser historischen Zusammenkunft, bei der u. a. Mary Shelleys «Frankenstein» entstand, erzählen der Schweizer Komponist Michael Wertmüller und die Dramatikerin Dea Loher in ihrer Oper eine Geschichte über die Suche nach Freiheit und Individualität in einer Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten zu sein scheint.
Ungewohnte Töne steigen aus dem Orchestergraben, wenn man den Saal des Basler Theaters betritt. Da übt einer rasante Läufe auf der Marimba, eine Bassgitarre röhrt, eine Hammondorgel wummert, dazwischen wärmen sich Bläser und Streicher auf. Dann erscheint der Dirigent Titus Engel und wird bereits mit Bravo-Rufen begrüsst.
Philosophie und Laudanum
Das erste Bild der Oper «Diodati.Unendlich» zeigt eine Schar Physiker in weissen Schutzanzügen. Mit ihren beleuchteten Gesichtern sehen sie aus wie wandelnde Laternen. Als Forscher des CERN repräsentieren sie die Gegenwart. In der Mitte der Bühne öffnet sich nach und nach jener Raum, in dem sich das Geschehen des ersten Aktes abspielt: Das Wohnzimmer der Villa Diodati am Genfersee, die Vergangenheit. Es erinnert an ein Puppenhaus, putzig mit grüngestreifter Tapete und roten Möbeln. Auch die Figuren haben anfänglich etwas Puppenhaftes in ihren historischen Kostümen (Ursula Kudrna).
Lord Byron erwartet seine Besucher. Die werden auf Stahlkarren hereingefahren und abgeladen, die Informationen wer wer ist, wie alt und welche Gebrechen er oder sie hat, werden auf einer hauchdünnen Leinwand eingeblendet (Video Tabea Rothfuchs). Da ist einerseits der Gastgeber, Lord Byron (Holger Falk), lust- und genusssüchtig, Percy Shelley (Ralf Romei), leicht abgehoben, seine künftige Frau Mary (Kristina Stanek), eine zarte, schwarzgekleidete Figur mit Blumenkranz im Haar. Sie hat ihr Baby verloren und strömt mit jeder Faser ihres Seins Tragik und Leid aus. Byrons Leibarzt Polidori (Seth Carico) hat etwas Gekünsteltes und Manieriertes. Claire (Sara Hershkowitz), übersteigert und hysterisch, ist Byrons Halbschwester und gleichzeitig Geliebte.
In ihrem rosa Kleid und den roten Wuschelhaaren mit Zopf sieht sie aus wie eine Porzellanpuppe. Die fünf philosophieren über den Sinn des Lebens, über die Welt, die aus den Fugen gerät, aber auch über ihr Liebesleben. Um das alles auszuhalten, inklusive Dauerregen, trinken sie Laudanum. Das Geschehen wird überwacht, dokumentiert, auch unterbrochen, durch die weissgekleideten Physiker, die rund um den Raum verteilt stehen.
Turbulent, verrückt und schrill
Es gibt leise Töne in dieser Inszenierung (Lydia Steier). Wenn Kristina Stanek als Mary ihr totes Kind beklagt, tut sie dies mit einer solchen Intensität, dass es unter die Haut geht. Dann wieder wird es laut und schrill und geht ziemlich zur Sache, wenn zum Beispiel Byron eine Apparatur um den Unterleib gehängt wird, die an eine Melkmaschine erinnert und er sich lustvoll windet, während Claire lasziv an einer Glasscheibe leckt. Holger Falk spielt diesen Byron mit viel Kraft, Ausdruck und animalischer Lust. Es mag zwar turbulent, schräg und schrill zugehen und ist musikalisch nicht nur für die Darstellenden und Musiker anspruchsvoll, es bleibt aber in diesem ersten Akt stimmig und die Spannung lässt nicht nach.
Die Welt aus den Fugen
Nach der Pause haben sich die Ränge aber doch gelichtet. Nun geht’s erst richtig los. Es ist wie wenn sich durch die langsame Auflösung des Wohnzimmers auch alles andere auflösen würde. Die Welt gerät definitiv aus den Fugen und es wird schwierig, allem zu folgen. Es ist sehr viel los auf der Bühne, Mary bastelt mit blutverschmierter Schürze an ihrem toten Kind, Byron kriecht kopfvoran in spastisch anmutenden Bewegungen eine freistehende Treppe runter, Polidori stöckelt auf High Heels und in Netzstrümpfen über die Bühne und Percy Shelley paddelt in einem Luftschiff am Himmel. Claire mit sichtlich gewachsenem Babybauch hat sich ihres Kleides und ihrer Perücke entledigt und windet sich in Geburtswehen. Zudem gibt es vermehrt Videoeinspielungen – das alles führt zu einer Reizüberflutung und es wird schwierig, sich nicht selber zu verlieren in diesem Getümmel.
Trotz des Chaos hat das Bühnenbild (Flurin Borg Madsen) durchwegs etwas Kunstvolles und Faszinierendes und Werthmüllers Musik, welche sich in keine Schublade stecken lässt, ist unglaublich abwechslungsreich. Mal gibt’s ein Solo mit der Hammondorgel, dann einen jazzigen Höllentanz. Mal liefern sich Byron und Shelley einen fantastischen Schlagabtausch, an Rhythmik kaum zu übertreffen und Claire begeistert mit einem vokalen Duell mit einem Schlagzeuger, ein absolutes Highlight, das auch prompt Szenenapplaus erntet.
Es ist eine Reise durch verschiedenste Musikstile, dies auch dank des Einbezuges des Ensembles «Steamboat Switzerland». Was den Musikern, aber vor allem den Sängerinnen und Sängern abverlangt wird, ist unvorstellbar: Diese Koloraturen, und wie sie sich da stimmlich aus ungeahnten Höhen ins beinahe Bodenlose fallen lassen müssen ist spektakulär. Zusammengehalten, geleitet und geführt wird das Ganze eindrucksvoll von Titus Engel. Er behält scheinbar mit Leichtigkeit die Übersicht über all die Tempis, musikalischen Schichtungen und Rhythmuswechsel.
Das furiose Finale ist dann bildlich, stimmlich und musikalisch kaum mehr zu übertreffen, ein sich stetig steigerndes rhythmisches Chaos. Die Premierenbesucher, feierten die Produktion frenetisch.
Kleine Fotodiashow der Produktion von Sandra Then:
Text: www.gabrielabucher.ch
Fotos: Sandra Then https://www.theater-basel.ch