Jetzt ist sie also eingetroffen, und obwohl sie absehbar war, fühlt sie sich jetzt doch etwas überfallmässig an, diese Pensionierung. Um diesen neuen Abschnitt zu markieren, und da sie an einem wunderschönen Montagmorgen eintraf, beschloss ich, schon mal den Napf zu besteigen. Nichts Aussergewöhnliches, ausser dass ich zum ersten Mal dort rauf ging, wo ich sonst runterkomme und darum logischerweise auch dort runter, wo ich sonst raufgehe. Überraschenderweise sah ich dabei Dinge, die ich bis anhin nie bemerkt hatte und der Weg kam mir teilweise ganz neu vor. Das hatte bei näherem Überlegen beinahe symbolischen Charakter, aber das nähere Überlegen liess ich dann bleiben, das war mir etwas unheimlich. Neu trank ich oben auch kein Glas Weisswein, das hatte aber nur was mit der Kälte zu tun und damit, dass es noch nicht mal 11.00 Uhr am Morgen war.
Wobei mich 11.00 Uhr am Morgen vier Tage später in Sion nicht dran hinderte, ein Glas Weisswein zu trinken. Ich war hingefahren, um eine Ausstellung zu besuchen von Alban Allegro, welcher damals beim Austausch „Martigny-Sursee“ im Somehuus ausgestellt hatte. Seither hängt ein Bild von ihm in meiner Wohnung. Die Dame in der Galerie erklärte mir innerhalb 10 Minuten zwei Mal genau dasselbe – ob‘s an ihrem Alter gelegen hatte oder an meinem? Das Glas Wein trank ich danach am Wochenmarkt zusammen mit halb Sion, welches sich an schönen Freitagen über den Mittag scheinbar traditionellerweise ein Apéro gönnt. Trauben von Menschen – Studenten, Geschäftsleute, Hunde- und Kinderhalter, Hausfrauen und ja, auch Rentner – scharten sich um jeden Stand, jeden Laden, jede kleinste Stelle, welche Wein ausschenkte und prosteten sich zu. Also stellte ich mich ebenfalls an und prostete mir selber zu, das fühlte sich ganz gut an. Im herrlichen Herbstlicht duellierten sich in den Gassen die Gerüche der Paella, des Raclettes und der gegrillten Hähnchen, man grüsste sich und tauschte allerlei Banalitäten aus, wobei französische Banalitäten etwas sehr Charmantes haben, vor allem nach einem Glas Dôle Blanche in halbleerem Magen. Eine unglaublich leckere Pilzsuppe gab dann etwas Gegengewicht, ich kaufte eine saucisse à l’abricotine – die Walliser lassen ihre Abricotine gerne ein bisschen überall einfliessen – und ein original Walliserbrot. Dann stieg ich auf die Burgruine Tourbillon und hatte diese ganz für mich allein, bis eine Frau eintraf, die für ihren betagten Vater alles kommentierte, was sie sah: Schau mal, die Aussicht, schau mal, die Treppe, schau mal, da hat’s noch einen Raum, oh, schau, und eine Dame! Die Dame, das war ich und irgendwie fühlte ich mich unter ihren Augen – und wohl auch immer noch etwas unter dem Einfluss des Dôles – für ein paar Sekunden wie ein Burgfräulein, oder wohl doch eher wie eine Burgdame.
Am Markt hatten sich die Gassen mittlerweile etwas geleert, ein relativ einsam aussehender Mann hielt sich noch an seinem Glas und an der Hundeleine fest und bedachte abwechslungsweise seinen Hund mit einem Leckerli und sich selber mit einem Schluck Wein. Wenig später sass ich im Zug zurück, nein, nicht zu Pendlerzeiten, das hatte ich meiner pendelnden Tochter versprechen müssen.
Ein ganz gelungener Einstieg eigentlich, aber beim Gedanken, dass mein Leben jetzt praktisch nur noch aus dem besteht, was man früher sehnlichst herbeigesehnt hatte, nämlich Ferien, überkommt mich im Moment noch ein leichtes Unbehagen!
Kleine Fotodiashow des Ausfluges:
Text und Fotos: www.gabrielabucher.ch